Nach Gipfel in der Schweiz Was nun geschehen müsste - und welche Rolle die Saudis haben
Die Schweizer Konferenz für Frieden in der Ukraine war ein Erfolg, sagt die Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff. Das dürfte auch auf Russland wirken. Im Interview erklärt sie, welche Maßnahmen nun sinnvoll wären.
tagesschau.de: Über den Sinn der Konferenz in der Schweiz ist in den vergangenen Wochen reichlich gestritten worden. Hat es sich gelohnt, ohne Russland und China und begleitet von russischen Maximalforderungen zu beraten?
Nicole Deitelhoff: Ich denke, dass die Konferenz ein Erfolg war. Es haben nicht nur die "üblichen Verdächtigen" aus dem Westen teilgenommen, sondern es gab Teilnehmer aus rund 90 Staaten aus allen Weltregionen.
Dass sie sich prinzipiell für die territoriale Integrität der Ukraine ausgesprochen haben, ist ein Erfolg. Immerhin mehr als 80 Staaten haben das Abschlusskommuniqué unterschrieben, das die Bedeutung des Völkerrechts betont, die Bedeutung von Nuklearsicherheit, des freien Getreideexports.
Das ist ein deutliches Signal, dass es eine internationale Unterstützung für einen Friedensprozess gibt. Von daher ist die Bilanz positiv.
"In allen Weltregionen Unterstützung für einen Friedensprozess"
tagesschau.de: Wird sie nicht dadurch geschwächt, dass nicht alle Staaten das Abschlussdokument unterzeichnet haben?
Deitelhoff: Das glaube ich nicht. Die Konferenz hat deutlich gezeigt, dass in allen Weltregionen Unterstützung für einen Friedensprozess da ist. Wir sprechen von einem Auftakt. Deshalb ist es auch nicht so gravierend, dass einige Staaten nicht unterschrieben haben.
Bei manchen Staaten wie etwa Saudi-Arabien scheint es mir auch verständlich. Saudi-Arabien wird als Organisator einer zukünftigen Konferenz gehandelt und wird sich deshalb den Anschein des neutralen Vermittlers geben wollen. Bei einigen anderen Staaten ging es vor allen Dingen darum, dass sie überhaupt anwesend waren, wie etwa Brasilien, Südafrika oder auch Indien. Sie bleiben damit Teil dieses Prozesses. Das ist zentral.
"Das macht den Kreml nervös"
tagesschau.de: Im Abschlussdokument wird unter anderem die Kontrolle der Ukraine über die Seehäfen und über die Atomkraftwerke gefordert. Beides würde verlangen, dass Russland erobertes Gebiet zurückgibt. Halten Sie das für realistisch?
Deitelhoff: Gegenwärtig nicht. Aber wichtig ist, dass das Abschlusskommuniqué auf das Völkerrecht verweist und es bekräftigt. Dass es deshalb keine Angriffe auf die zivile Schifffahrt, auf zivile Häfen geben darf, dass die Nuklearsicherheit wiederhergestellt werden muss.
Es ist klar, dass Russland derzeit nicht bereit ist, die territoriale Kontrolle zum Beispiel über das AKW Saporischschja abzutreten. Aber das Wesentliche ist, dass mehr als 80 Staaten der Überzeugung sind, dass Russland genau das tun müsste und dass hier eine Völkerrechtsverletzung vorliegt.
tagesschau.de: Russland hat unmittelbar vor der Konferenz genau das Gegenteil gefordert, nämlich dass Russland die Kontrolle über weitere Gebiete bekommt, die es noch gar nicht erobert hat. Ein taktischer Zug?
Deitelhoff: Putins sogenanntes Angebot war ein taktischer Versuch, die Unterstützung der Ukraine auf der Konferenz in Bürgenstock zu schwächen, indem er sich scheinbar verhandlungsbereit gab und zugleich der Ukraine die Verantwortung für ein Scheitern zuwies. Faktisch ist Putin in keiner Weise von seinen ursprünglichen Kriegszielen abgerückt und hat von der Ukraine die Abtretung weiterer, bislang nicht eroberter Gebiete verlangt.
Der Kreml weiß ganz genau, dass das kein realistisches Verhandlungsangebot ist. Andererseits kann man damit Russland beim Wort nehmen und vorschlagen, in Vorgespräche einzutreten. Auch um deutlich zu machen, dass man sein Angebot nicht einfach wegwischt, selbst wenn es eine Finte ist.
tagesschau.de: Setzt die Konferenz in der Schweiz Russland unter Druck?
Deitelhoff: An den hektischen Reaktionen aus dem Kreml sieht man, dass Russland durchaus Sorge vor einer international wachsenden Unterstützung der Ukraine hat. Das macht ihn nervös. Sonst hätte sich Putin nicht die Mühe gemacht, kurz vor der Konferenz dieses "Angebot" zu machen. Es wird Eindruck auf Russland machen, dass das Abschlussdokument von mehr als 80 Staaten unterschrieben wurde. Ob das zu neuen Angeboten führt, kann derzeit niemand sagen.
Wichtig ist nun, die vielen Einzelfragen in kleineren Meetings mit anderen Staaten weiterzubearbeiten. Je konkreter das wird, desto mehr wird der Druck auf Russland steigen, darauf zu reagieren. Wichtig wäre auch, dass man sich weiter bemüht, die Staaten, die nicht unterschrieben haben oder abwesend waren, dazu zu bringen, ein solches Kommuniqué zu unterstützen. Das sind vor allen Dingen die Staaten der BRICS-Gruppe, also Südafrika, Brasilien, Indien und natürlich der Elefant im Raum: China.
Was könnte Saudi-Arabien erreichen?
tagesschau.de: Saudi-Arabien könnte für ein weiteres Format als Ausrichter in Frage kommen. Was könnte das Königreich für die Weiterentwicklung dieses Prozesses tun?
Deitelhoff: Natürlich schauen wir aus gutem Grund kritisch auf Saudi-Arabien. Aber man muss anerkennen, dass der Konflikt in der Ukraine von vielen Staaten außerhalb des globalen Nordens als eine regionale, innereuropäische Angelegenheit betrachtet wird, selbst wenn viele außerhalb Europas darunter leiden. Aber in den Ländern des Südens ist man der Ansicht, dass die Europäer das lösen müssten, dies aber nicht schaffen.
Saudi-Arabien hat sehr gute Beziehungen innerhalb des globalen Südens, ist auch der BRICS-Gruppe beigetreten und könnte eine Art Scharnier sein, auf andere Staaten im globalen Süden einzuwirken und ihnen Anreize zu setzen. Damit ein Friedensprozess überhaupt in die Gänge kommen kann und erfolgsversprechend ist, geht es darum, dass man signalisieren kann: Die internationale Staatengemeinschaft will einen solchen Friedensprozess, und sie ist bereit, sich zu engagieren und in einen solchen Friedensprozess zu investieren. Das kann im nächsten Schritt Saudi-Arabien sicher besser erreichen als die Schweiz.
tagesschau.de: Die Türkei wird ja auch immer wieder genannt. Was hätte sie zu bieten?
Deitelhoff: In der Türkei hat es bereits einmal konkrete Verhandlungen gegeben, kurz nach Kriegsbeginn im Frühjahr 2022. Sie hat gute Verbindungen in den Kreml und kennt die Herausforderungen in solchen Gesprächen. Aber im globalen Süden ist die Glaubwürdigkeit Saudi-Arabiens größer. Die Türkei ist immerhin NATO-Mitglied.
"Vertrauen in den Prozess steigern"
tagesschau.de: Was kann man aus den damaligen Verhandlungen für künftige Runden mitnehmen?
Deitelhoff: Man kann daraus die Lehre ziehen, dass die Chancen, einen Frieden in der Ukraine mithilfe eines umfassenden Abkommens zu erreichen, sehr gering sind. Damals hat man versucht, ein Paket zu schnüren und ist dann an miteinander unvereinbaren Forderungen gescheitert.
Deshalb muss man versuchen, eine Politik der kleinen Schritte umzusetzen, indem man die Konfliktgegenstände "kleinkocht" und versucht, für die einzelnen Bereiche Abkommen zu schließen. Das hat den Vorteil, dass man leichter überwachen kann, ob sich beide Seiten daran halten. Wenn nicht, kann man den Prozess unterbrechen, kann Sanktionen für Verletzungen von Abkommen festlegen.
Man bekommt dadurch Mittel an die Hand, das Vertrauen der Konfliktparteien nicht ineinander, aber in diesen Prozess zu steigern. Das ist wesentlich. Denn es gibt faktisch kein Vertrauen zwischen den beiden Konfliktparteien. Der schrittweise Prozess müsste von Sicherheitsgarantien flankiert werden, sodass die beiden Staaten sicher sein können, dass eine Nichteinhaltung eines Abkommens Konsequenzen hat.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de