Die Leiterin einer Gesundheitseinrichtung für Familien in Mykolajiw geht durch durch die durch Beschuss beschädigten Räume.
Europamagazin

Gegenoffensive in Südukraine "Je schneller vorbei, desto besser"

Stand: 10.09.2022 06:21 Uhr

Mykolajiw liegt nur etwa 25 Kilometer von der Front in der Südukraine entfernt. Jetzt richten sich die Hoffnungen des Landes auf diesen Abschnitt. In der Stadt sind die Folgen der Gegenoffensive bereits spürbar.

Der Keller des Kindergartens von Mykolajiw ist feucht und dunkel, die Decke beklemmend niedrig. Klapprige Kinderstühle, einfache Betten und verschlissene Matratzen sind im Raum verteilt. In einer Ecke stehen Plastikeimer für menschliche Bedürfnisse. Es ist der Luftschutzraum, der einzige sichere Ort des Kindergartens bei russischen Raketenangriffen. Aber: Trotz der heulenden Sirenen des Luftalarms bleibt der Keller menschenleer.

"Ich gehe nur herunter, wenn Raketen wirklich in der Nähe einschlagen", sagt Kostja. Der junge Mann trägt Flip-Flops und rote Socken, hat schwarze Haare. "Putin Motherfucker" steht auf seiner Bauchtasche. Im April sei er vor den russischen Truppen nach Mykolajiw geflohen, erzählt Kostja. Nun lebt er in dem Kindergarten, der zu einer Aufnahmeeinrichtung umfunktioniert worden ist.

Wie andere hier untergekommene Menschen stammt er aus der nahegelegenen Region Cherson, die die ukrainischen Streitkräfte jetzt zurückerobern wollen. Sein Dorf sei von russischen Truppen besetzt und seine Eltern immer noch dort, berichtet Kostja und meint: "Die Gegenoffensive wird unser Dorf komplett zerstören". Aber eine Alternative gebe es nicht: "Nur Feuer kann die Russen vertreiben."

Krieg gegen die Ukraine: Reportage aus Mykolajiw

Tobias Dammers, WDR, zzt. Kiew, Europamagazin 12:45 Uhr

Kaum überprüfbare Meldungen

Zu Beginn des Krieges wurde Mykolajiw von der russischen Armee belagert, aber nicht erobert. Seitdem verteidigen ukrainische Soldaten die Stadt, sie ist landesweit zu einem Symbol des Widerstands geworden. Fast täglich schlagen in Mykolajiw russische Raketen oder Granaten ein. Gegenüber einem ARD-Team vor Ort sagte der Chef der regionalen Militäradministration, Witalij Kim, dass seit Kriegsbeginn nur an 27 Tagen kein Beschuss registriert worden sei. In der Stadt sind die Folgen nicht zu übersehen: an der Universität, der Stadtverwaltung, an einem Krankenhaus oder einfachen Wohnhäusern.

Auch, weil die Front immer noch in der Nähe ist. Etwa 25 Kilometer sind es bis zur Linie der ukrainischen Gegenoffensive. Zuletzt hatte Russland ukrainische Angriffe im Süden vermeldet, die Ukraine Erfolge verkündet. Erste Geländegewinne seien gemacht und Dörfer zurückerobert worden. Brücken seien zerstört, russische Nachschubwege unterbrochen und Kommandoposten angegriffen worden.

Auch die USA und der britische Geheimdienst gehen von Fortschritten der ukrainischen Truppen aus. Im Gegensatz zu den konkreten ukrainischen Erfolgsmeldungen aus dem Nordosten des Landes bleiben die Meldungen aus dem Süden allerdings eher abstrakt. Auf Nachfrage, wie viele südliche Dörfer bereits zurückerobert worden seien, antwortet der Militärgouverneur Kim ausweichend: Er wisse von zurückeroberten Siedlungen, werde diese aber nicht benennen. Da das ukrainische Militär den Zugang zur Front für Journalisten gesperrt hat, lassen sich solche Angaben nicht überprüfen.

Mehr Beschuss, mehr Verwundete

In Mykolajiw habe seit Beginn der Offensive in der vergangenen Woche der Beschuss zugenommen, berichtet Ludmila. Sie lebt schon seit ihrer Geburt in Mykolajiw. Die ältere Dame mit grauen Haaren, rosa Lippenstift und großer Handtasche ist in den ehemaligen Kulturpalast gekommen, der zu einem humanitären Zentrum umfunktioniert worden ist. Hier versorgen Freiwillige bedürftige Menschen mit Kleidung, Medizin und Essen.

Für sie sei es nie eine Option gewesen, die Stadt zu verlassen, erzählt Ludmila. Ihre Kinder seien geflohen, aber sie wolle weiterhin in ihrer Heimatstadt bleiben. Sie vertraue der ukrainischen Armee und der regionalen Verwaltung. Für die Gegenoffensive sei sie "optimistisch": Sie lebe in der Hoffnung, "dass all diese Bastarde vertrieben werden".

Auch Mychajlo Chudjejew glaubt, dass die Gegenoffensive Erfolg haben wird und besetze Gebiete bald zurückerobert werden. Vor dem Krieg habe er in einer Schiffsfabrik gearbeitet, erzählt er, nun leitet er das humanitäre Zentrum. Von außen ist das Gebäude mit Sandsäcken verbarrikadiert. Das Nachbargebäude droht wegen eines Bombentreffers auseinanderzufallen. Im Keller stapeln sich Medikamente und Verbandszeug, im ehemaligen Hauptsaal werden Kleidung und Essenspakete verteilt.

Trotz der Gegenoffensive blickt Chudjejew mit Sorge auf die kommenden Monate. Dieser Winter werde "unvergesslich", sagt er. Dann werde die Versorgung noch schwieriger, als sie in Kriegszeiten ohnehin schon ist. Schon jetzt, wegen der Gegenoffensive, beobachte er eine "steigende Zahl von Verwundeten in Krankenhäusern".

"Wir wollten diesen Krieg nicht"

Innerhalb der Stadt sind in den vergangenen Tagen wenige Soldaten und Militärfahrzeuge präsent. An mehreren Checkpoints an den Zufahrtsstraßen werden Fahrzeuge von bewaffneten Truppen kontrolliert. Inzwischen hat laut der Militäradministration von Mykolajiw rund die Hälfte der ehemals 500.000 Einwohner der Stadt verlassen. Ganze Straßenzüge sind verlassen, die Fenster zugenagelt, die Gärten verwahrlost.

Und trotzdem geht auch der Alltag im Krieg weiter: Manche Tankstellen, Supermärkte und Restaurants in Mykolajiw sind geöffnet. Aber bezahlbar sind sie für viele Menschen nicht mehr. Im Zentrum der Stadt wartet die Rentnerin Valentina seit mehr als einer Stunde vor der kostenlosen Essensausgabe des Roten Kreuzes. Mehrere hundert Menschen stehen in der Warteschlange für ein Mittagessen, die meisten vor ihr. "Die Menschen können nicht mehr arbeiten", sagt Valentina. Auch sie beobachtet eine Zunahme des Beschusses seit Beginn der Offensive. "Die Kinder kämpfen für uns, für Mykolajiw", so Valentina. "Aber wir wollten diesen Krieg nicht. Je schneller er vorbei ist, desto besser."

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