Labour-Kandidat Starmer Wird "Mr. Langweilig" der nächste britische Premier?
Für den politischen Jahrmarkt der Eitelkeiten ist Keir Starmer eher ungeeignet: Dem Labour-Chef fehlen Charisma und Ego. Trotzdem hat er beste Chancen, der nächste britische Premierminister zu werden.
Ob er nicht zu langweilig sei, um Premierminister zu werden, wollte eine Journalistin von Keir Starmer wissen. Er wirke wie ein Polit-Roboter, kritisierte ein Zuschauergast in einem der TV-Duelle. Als "Reh im Scheinwerferlicht" beschreiben ihn die Zeitungen.
Der Labour-Chef ist wenig dynamisch, er reißt niemanden mit. Nur manchmal bricht es aus ihm heraus. Wer Polit-Theater wolle, solle nach Clacton-on-Sea fahren. Dort tritt der flamboyante Nigel Farage für die rechtspopulistischen Partei Reform UK an. Er selbst wolle Premierminister werden, "nicht Zirkusdirektor".
Eine Aufstiegsgeschichte
Der Wahlkampfslogan seiner Labour-Partei passt zu Starmer: "Change" ist auf den ersten Blick eine blasse Losung. Veränderung verspricht schließlich jede Oppositionspartei.
Doch es ist genau das, wonach sich die meisten Briten nach 14 Jahren Tory-Regierung mit Sparmarathon und Brexit-Debakel sehnen: eine andere Führung. Manche Zeitungen stellen sogar die These auf, "Mr. Boring", der "Antipopulist", sei genau das, was das Land jetzt brauche.
Starmers Geschichte ist eine des Aufstiegs. Sein Vater war Werkzeugmacher, seine Mutter Krankenschwester. Das Geld war oft knapp. Starmer betont das in Interviews - vermutlich, um seiner Vita Kontur zu verleihen. Die meisten Abgeordneten in Westminster kommen aus der Mittelschicht oder reichen Familien. Er aber musste sich hocharbeiten.
Weil seine Mutter schwer krank war, habe es zu Hause wenig Raum für Emotionen gegeben. Darin liege der Ursprung seiner Art, sagt Starmer selbst.
Sir Keir
Als Menschenrechtsanwalt verteidigte Starmer Umweltaktivisten gegen McDonald's, erkämpfte Entschädigungszahlungen für Bergarbeiter und vertrat Angeklagte in Commonwealth-Ländern, die zum Tode verurteilt waren.
Britische Gerichte sind hoch reglementierte, sehr formale Orte. Manche Experten glauben, Starmer habe das nie abschütteln können und sehen darin einen Grund, warum er in TV-Duellen gegen extrovertierte Populisten den Kürzeren zieht. Er soll sogar die Inspiration für den staksigen Anwalt Mr Darcy in den "Bridget Jones"-Filmen gewesen sein. Eine romantische Komödie, in der sich die Protagonistin in diesen Mann verliebt, der nur schwer aus seiner Haut kann.
Später stieg Starmer in eine Spitzenposition der Staatsanwaltschaft auf - ein Job, der ihm den Ritterschlag und den Titel "Sir" einbrachte - aber auch viel Angriffsfläche bot. Mitglieder der konservativen Partei werfen ihm bis heute vor, entweder kontroverse Fälle angenommen oder nicht hart genug verfolgt zu haben.
Der Schonungslose
In die Politik ging Starmer als Spätzünder, "um die Welt zu einem besseren Ort zu machen", wie er sagt. Mit 52 Jahren gewann er einen Sitz im Parlament, kurz bevor Jeremy Corbyn Parteichef wurde und ihn in seine Regierungsmannschaft holte.
Bei der Basis war der Sozialist Corbyn zwar beliebt, in der eigenen Partei jedoch rumorte es. Denn Corbyn fuhr einen scharf linken Kurs und es wurden Vorwürfe laut, er dulde antisemitische Tendenzen in den eigenen Reihen. 2019 fuhr Corbyns Partei eines ihrer schlechtesten Wahlergebnisse ein und holte nur 202 von 650 Sitzen im Parlament.
Glaubt man Biograph Tom Baldwin, dann plante Starmer schon längst, die Parteiführung zu übernehmen - mit Erfolg. 2020 trat er als Labour-Chef an, um die Partei wieder zusammenzuführen und aus dem Umfragetief zu holen.
Und er krempelte sie radikal um. Starmer verbannte etliche Mitglieder wegen mutmaßlich antisemitischer Tendenzen, ging hart gegen den linken Labour-Flügel vor und setzte sich dafür ein, dass der Linksaußen-Mann Corbyn nicht mehr als Kandidat antreten durfte. Kritiker sprachen von einer "Säuberung". Als "schonungslos" wird Starmer seitdem auch beschrieben.
Ein "Mann der Mitte"?
Dann schob Starmer die Partei zurück in die politische Mitte: Law and Order wurde lauter diskutiert, Verstaatlichung oder Steuererhöhungen leiser. Labour vernachlässigte Studentenhochburgen im Wahlkampf, konzentrierte sich stattdessen auf die Wähler ihres ehemaligen "red wall": Labours eigentliche Hochburg, die sie 2019 an die konservative Partei verloren hatten.
Starmers Unterstützer nennen ihn pragmatisch, einen Mann der Mitte. Die Kritiker schimpfen ihn ein Fähnchen im Wind: Er ändere zu oft seine Meinung, lasse Versprechen wieder fallen.
Sein Biograph Baldwin sagt, er gehe anders als die meisten Politiker vor, eher wie ein Jurist, taktisch: Statt mit einer großen Vision zu starten und bei Hindernissen Kompromisse einzugehen, startet Starmer mit kleinen, praktischen Manövern und arbeite sich vor.
Linksruck nicht ausgeschlossen
Ob er wirklich ein "Mann der Mitte" ist oder Stratege, bleibt offen. Politikwissenschaftler Tim Bale von der Londoner Queen-Mary-Universität schließt nicht aus, dass Starmer Labour wieder weiter nach links rücken könnte.
Keir Starmer ist kein Redner wie der ehemalige Premier Tony Blair, der 1997 als großer Hoffnungsträger einen Erdrutschsieg für die Labour-Partei holte und Aufbruch verkörperte. Starmer ist kein radikaler Sozialist wie Jeremy Corbyn. Für manche, wie den Zuschauergast im TV-Duell, ist er ein Polit-Roboter.
Klar ist aber auch: Starmer hat Labour in kurzer Zeit für eine breite Masse wieder wählbar gemacht. Glaubt man den Umfragen, könnte Labour die Zahl der Sitze im Unterhaus zu 2019 mehr als verdoppeln.