Ein Jahr nach Bootsunglück vor Italien Trauer, Ärger und die Frage der Schuld
Mehr als 90 Migranten sind bei einem Bootsunglück vor der Küste Italiens vor einem Jahr gestorben. Gegen Mitarbeiter der Küstenwache wird bereits ermittelt. Aber auch der Regierung wird eine Mitschuld vorgeworfen.
Ein Kreis aus Kerzen und Teddybären am Strand in der Nacht: Daneben stehen in der Dunkelheit etwa hundert Menschen an der Stelle, an der vor einem Jahr Leichen ans Ufer gespült wurden. Eine Mahnwache, mit der Angehörige und Mitglieder von Hilfsorganisationen an die Opfer der Katastrophe von Cutro erinnern.
35 Teddybären haben sie aufgestellt, als Symbol für die 35 Minderjährigen unter den insgesamt 94 geborgenen Toten dieses seit Jahren schlimmsten Migrantenunglücks vor den italienischen Küsten.
Unter den am Strand Trauernden ist auch Bahara Hossein. Die 16-jährige Schülerin aus Afghanistan lebt seit neun Jahren in Peine bei Hannover. Gestern hatte sie an einer Demonstration der Angehörigen und Hilfsorganisationen in Crotone teilgenommen. "Wir sind aus Deutschland hierher angereist", erzählt sie. "Ich habe meine Tante verloren, meinen Cousin und meine Cousine. Sie sind mitten in den Bootsunfall verwickelt worden."
Noch immer vermisste Opfer
Nur zehn Jahre sei ihr kleiner Cousin alt geworden, erzählt die Schülerin traurig. Ihre Cousine, deren Leiche nie gefunden wurde, sei 20 Jahre alt gewesen, ihre Tante 40. "Sie wollten hierherkommen, um zur Schule zu gehen, sich weiterzubilden, zu arbeiten. Jetzt sind sie verstorben und eine ist verschwunden", sagt die junge Afghanin. Insgesamt werden von den rund 180 Menschen, die sich auf dem Boot befunden haben sollen, noch mindestens zwölf vermisst.
Was Bahara Hossein und andere Angehörige nach wie vor verbittert, ist die Überzeugung, die Katastrophe hätte verhindert werden können, wenn die italienischen Rettungskräfte rechtzeitig aktiv geworden wären. Das Unglück ereignete sich bei hohem Wellengang nur wenig hundert Meter vor der Küste. "Wir wollen eine Antwort darauf, warum das Land nicht von Anfang an geholfen hat, obwohl die mit Flugzeugen über dem Schiff waren", sagt die 16-Jährige. "Sie hätten direkt helfen können, aber sie haben es nicht gemacht."
Wer ist verantwortlich?
Die Staatsanwaltschaft Crotone ermittelt im Zusammenhang mit dem Untergang des Migrantenschiffs bereits gegen sechs Mitarbeiter der Küstenwache und der Finanzpolizei wegen möglicherweise unterlassener Hilfeleistung. Bereits am Tag vor der Katastrophe hatte ein Aufklärungsflugzeug der EU-Grenzschutzagentur Frontex das Richtung süditalienischer Küste fahrende Schiff gemeldet.
Obwohl zu befürchten war, dass der Motorsegler angesichts der schweren See in Schwierigkeiten geraten könnte, wurde von italienischer Seite keine Such- und Rettungsaktion eingeleitet.
Wie die Nachrichtenagentur Ansa berichtet, haben Angehörige der Opfer in Crotone angekündigt, die italienische Regierung zu verklagen. In einer Zivilklage wollen sie von der Regierung Schadensersatz wegen unterlassener Hilfeleistung verlangen.
Überlebende und Angehörige der Opfer beten am Strand in Cutro in der Provinz Crotone an der Stelle, an der das Migrantenboot kenterte.
Auch Italiens Oppositionsführerin Elly Schlein macht die Regierung Meloni mitverantwortlich. "Wir stellen seit einem Jahr dieselbe Frage: Wie war es möglich, dass die Schiffe der Küstenwache nicht hinausgefahren sind, um einem Boot zur Hilfe zu kommen, von dem man wusste, dass es in Schwierigkeiten war?"
Während Schlein sich an der Demonstration der Angehörigen und Hilfsorganisationen in Crotone beteiligte, blieben Vertreter der Regierung am Jahrestag den Erinnerungsveranstaltungen fern. Tommaso Foti, Fraktionschef der Meloni-Partei Brüder Italiens, verwahrt sich gegen Vorwürfe der Opposition. Nicht die Regierung sei für die Toten verantwortlich, sondern die Menschenschlepper. Es bleibe mehr denn je die Aufgabe, illegale Migration zu unterbinden.
Ein erstes Urteil
Die Regierung Meloni hatte unmittelbar nach der Katastrophe von Cutro die Migrationsgesetze verschärft. Unter anderem hat Italien die Möglichkeiten für Migranten eingeschränkt, in Italien humanitären Schutz zu bekommen.
Außerdem wurden die Strafen für Schlepper erhöht. Anfang des Monats ist in Crotone ein türkischer Staatsbürger, der das Unglücksboot gesteuert haben soll, zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Dagegen fordert Giovanna di Benedetto von der Hilfsorganisation Save the Children mehr Hilfe für Menschen, die Schutz suchen und weniger Abschottung durch die Europäische Union. "Die gewaltigen Ressourcen, die es zur Begrenzung der Migration gibt, sollten eingesetzt werden für Hilfs- und Rettungsaktionen und für legale und sichere Wege nach Europa, für humanitäre Korridore."
Di Benedetto, die das Gedenken in Cutro mitorganisiert hat, erinnert daran, dass nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration in den vergangenen zehn Jahren im Mittelmeer 29.000 Menschen ums Leben gekommen sind, beim Versuch, Europa zu erreichen.