Rauchschwaden über dem libanesischen Dorf Mais al-Dschabal während eines israelischen Luftangriffs.
interview

Israel droht der Hisbollah "Wir müssen mit größeren Angriffen rechnen"

Stand: 19.06.2024 16:54 Uhr

Die Sorge vor einer Eskalation im Norden Israels ist berechtigt, sagt Islamwissenschaftler Steinberg. Zugleich müsse abgewartet werden, inwieweit die Rhetorik tatsächlich Entschlossenheit widerspiegele.

tagesschau.de: Wenn die israelische Armee die Pläne für ein Eingreifen im Libanon genehmigt: Wie viel näher rückt dann ein Einsatz der israelischen Armee im Südlibanon? Die Jerusalem Post schrieb von einer "Verschärfung der Rhetorik".

Guido Steinberg: Die Rhetorik hat sich in den letzten zwei Wochen in der Tat verschärft, aber auch die Kampfhandlungen selbst, und zwar auf beiden Seiten. Vergangene Woche haben die Israelis einen hochrangigen Kommandeur der Hisbollah getötet. Daraufhin hat die Hisbollah mehr und auch weitreichendere Raketen als bisher in Richtung Israel abgeschossen.

Insofern erleben wir auch eine faktische Eskalation. Und die große Frage ist jetzt, inwieweit die Israelis ihren Drohungen Taten folgen lassen und tatsächlich einen größeren Angriff beginnen.

Guido Steinberg
Zur Person

Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er forscht vor allem zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Von 2002 bis 2005 war er Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.

Die Stimmen, die für ein Eingreifen werben, werden lauter

tagesschau.de: International ist die Sorge vor einer weiteren Eskalation groß. Ist diese Sorge aus Ihrer Sicht angebracht?

Steinberg: Auf jeden Fall. Wir diskutieren das Thema schon seit spätestens dem 8. Oktober vergangenen Jahres. Seitdem die Hisbollah begann, als Reaktion auf die Ereignisse in und um Gaza, Israel mit Raketen, mit Mörsern und anderen Waffen zu beschießen.

Früh schon forderten wichtige israelische Politiker, einen Präventivkrieg gegen die Hisbollah zu führen. Der Wortführer war immer Yoav Gallant, der Verteidigungsminister. Diese Stimmen werden in den letzten Wochen lauter.

Mein Eindruck ist, dass die Entscheidung, ob es tatsächlich zu einem großen Krieg kommt, noch nicht gefallen ist. Aber die Anzeichen verdichten sich, dass die Ereignisse in Gaza auch zu einer großen Eskalation im Norden führen könnten.

Einigkeit in Bezug auf die Hisbollah

tagesschau.de: Erst am Wochenende wurden zumindest kommunikative Risse sichtbar, als die israelische Armee Feuerpausen beziehungsweise taktische Pausen für Hilfslieferungen in den Gazastreifen ankündigte und die Regierung nach eigenen Angaben davon nichts wusste. Ist das in Bezug auf den Libanon anders?

Steinberg: Ja, das ist tatsächlich etwas anders. Die Nachricht der israelischen Armee, dass nun die Pläne vorliegen und beschlussfähig sind, geht einher mit Warnungen, denen sich auch der Ministerpräsident angeschlossen hat.

Erst vergangene Woche deutete Benjamin Netanyahu an, dass es zu einer größeren israelischen Aktion kommen kann. Seine Koalitionspartner sind ohnehin Hardliner gegenüber der Hamas und der Hisbollah.

Beim Thema Hisbollah herrscht ein doch sehr homogenes Meinungsbild vor. Trotzdem sehen wir in den vergangenen Monaten immer mal wieder, dass die etwas großspurige Rhetorik in Tel Aviv und Jerusalem doch nicht zu Taten führt. Deshalb müssen wir abwarten. Es ist sehr schwierig, von außen zu lesen, inwieweit die Rhetorik tatsächlich Entschlossenheit widerspiegelt.

tagesschau.de: Ist es denn eigentlich ein üblicher Vorgang, dass in Israel militärische Pläne von der Armee genehmigt werden anschließend öffentlich gemacht werden?

Steinberg: Die Armee hat sich eigenverantwortlich geäußert und das ist das eigentlich Ungewöhnliche. Normalerweise bereiten Militärs verschiedene Pläne für Militäroperationen vor, die dann von der Politik zusammen mit den führenden Militärs diskutiert werden, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt.

Letzten Endes gewinnen die Nachrichten von Dienstagabend aber nur dadurch an Bedeutung, dass sie mit der eskalierenden Rhetorik der israelischen Politik in Einklang stehen. Und deswegen müssen wir damit rechnen, dass es tatsächlich, vielleicht nicht kurzfristig, aber in nächster Zeit zu größeren Angriffen gegen die Hisbollah kommt.

"Es würde sehr viele zivile Opfer bedeuten"

tagesschau.de: Was würde solch ein Schritt - also eine weitere Front im Norden - für Israel bedeuten?

Steinberg: Das hängt davon ab, wie das israelische Militär vorgeht und ob es erfolgreich vorgeht. Die israelischen Planungen für einen solchen Waffengang sind bekannt. Ganz unabhängig von dieser Verlautbarung von Dienstag haben die Israelis nur dann eine Chance, diesen Krieg erfolgreich zu führen, wenn sie sehr schnell mit dem massiven Einsatz von Luftwaffe, Raketen, Drohnen, Artillerie und Bodentruppen versuchen, die Flugkörper der Hisbollah möglichst frühzeitig zu zerstören.

Wenn ihnen das nicht gelingt, würde die Hisbollah sehr viele Raketen, Drohnen und Marschflugkörper auf Israel schießen können und so große Zerstörungen anrichten.

Ein solcher Militärschlag würde aber auch sehr viele zivile Opfer fordern und große Zerstörungen im Libanon anrichten. Das ist meines Erachtens die große Unbekannte: Ist die israelische Regierung, die sich dieser Problematik bewusst ist, tatsächlich bereit, ein solches militärisches Risiko einzugehen und damit auch die eigene Reputation zumindest in den Augen einiger noch weiter zu schädigen.

Nicht das Vorgehen, das sich deutsche oder amerikanische Diplomaten wünschen

tagesschau.de: Schauen wir auf die diplomatischen Bemühungen, die im Hintergrund laufen. Der US-Gesandte Amos Hochstein hielt sich gerade im Libanon auf. Auch mit dem Auftrag, im Namen Israels zu verhandeln. An so einem Tag verkündet die israelische Armee, die Pläne genehmigt zu haben. Wie passt das zusammen?

Steinberg: Das ist ein ganz übliches Vorgehen aus israelischer Sicht. Einerseits wird indirekt mit der Hisbollah verhandelt. Gleichzeitig sind die Israelis immer der Meinung, dass man den Druck auf den Gegner erhöhen muss, weil der angeblich keine andere Sprache versteht.

Das ist nicht das Vorgehen, das sich deutsche oder amerikanische Diplomaten wünschen. Aber das ist der Stil israelischer Regierungen, vor allem, aber nicht nur dann, wenn sie, wie aktuell, von rechts der Mitte stammt.

Das Gespräch führte Katja Keppner, tagesschau.de

Jan-Christoph Kitzler, ARD Tel Aviv, tagesschau, 19.06.2024 15:56 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 19. Juni 2024 um 16:11 Uhr.