Britischer Gesundheitsdienst Eine Krise mit langem Vorlauf
Patienten in britischen Krankenhäusern müssen vor allem eines: warten - auf den Rettungswagen, die OP und sogar auf die Entlassung. Seit Jahren ist der Gesundheitsdienst NHS unterfinanziert und es fehlt massiv an Personal.
Sarah Jones aus Norfolk wirkt ebenso müde wie fassungslos. Es sei nun 20.50 Uhr, erzählt sie in einem Bericht der BBC. Der Krankenwagen war morgens um 8.30 Uhr gekommen. Die nächsten zwölf Stunden verbrachte Sarah mit ihrem 84-jährigen Vater im Krankenwagen. Der alte Mann leidet wegen einer Herzinsuffizienz unter Atemnot, aber im Krankenhaus war kein Platz frei.
"Das System scheint vollkommen kaputt zu sein", resümiert Jones. Sie fragt sich, ob ein anderer Notfall es vielleicht gar nicht ins Krankenhaus geschafft hat, weil durch ihren Vater ein Krankenwagen einen ganzen Tag lang blockiert war. Für die 82-jährige Marie Grubb in Cornwall kam ein Krankenwagen allerdings erst nach 31 Stunden. So lange lag die alte Dame mit Beckenbruch auf dem Boden und hat auf Hilfe gewartet. Es seien Höllenqualen gewesen, sagte sie der BBC.
Jahrelange Wartezeiten bei Routineeingriffen
Jeden Tag gibt es neue Geschichten dieser Art. Viele Briten warten stundenlang auf einen Krankenwagen, dann stundenlang in einem Krankenwagen oder in Notbetten auf zugigen Krankenhausfluren. Die derzeitige Krise hat eine neue Qualität. Ärzte, Pfleger, Krankenhausmanager und Rettungssanitäter - häufig Menschen, die schon seit Jahrzehnten für den Gesundheitsdienst NHS arbeiten - sind sich einig: So schlimm war es noch nie.
Zu den Ursachen der Misere gehören ein gravierender Personalmangel in den Krankenhäusern, eine hohe Zahl an Grippepatienten zusätzlich zu Covidfällen und der Versuch, eine lange Warteliste abzubauen. Denn rund sieben Millionen Briten müssen monatelang, zum Teil auch bis zu zwei Jahre, auf Routineeingriffe wie Knie- oder Hüftoperationen warten. Zudem sind zu viele Krankenhausbetten zu lange belegt.
Premier Sunak will nicht von Krise sprechen
Weil es nicht nur an Personal, sondern auch an Pflegeeinrichtungen mangelt, können viele Patienten, die eigentlich nicht mehr im Krankenhaus sein müssten, nicht entlassen werden. Die Regierung hatte bereits im vergangenen Jahr 500 Millionen Pfund zur Lösung des Problems bereitgestellt und stockt diesen Betrag nun um weitere 250 Millionen Pfund auf. Allerdings ist Beobachtern zufolge bisher nur wenig von dem Geld dort angekommen, wo es benötigt wird.
Trotz der prekären Lage will Premier Rishi Sunak nicht von einer Krise sprechen, sondern nur davon, dass der staatliche Gesundheitsdienst NHS unter großem Druck steht.
Im aktuellen Streik fordern die NHS-Mitarbeiter eine Lohnerhöhung von 19 Prozent. Damit sollen jahrelange Einbußen bei den Reallöhnen und die aktuelle Inflation von über zehn Prozent ausgeglichen werden.
"Preis für zehn Jahre Sparpolitik"
Die Regierung wollte bisher nur für das nächste Finanzjahr 2023/24 verhandeln, das im April beginnt. Inzwischen deutet sich aber an, dass es eine Einmalzahlung für 2022 und eine Lohnerhöhung ab Januar 2023 geben könnte. Bei einem Gespräch am Montag zwischen Regierungs- und Gewerkschaftsvertretern haben sich beide Seiten allerdings kaum angenähert.
"Die Regierung will über Produktivität reden, wenn unsere Mitglieder bereits 18-Stunden-Schichten arbeiten. Wie soll man noch produktiver werden?", empörte sich danach der Gewerkschafter Onay Kasab von der Unite the Union.
Die Krise im britischen Gesundheitswesen hat einen langen Vorlauf. Matthew Taylor von der NHS Confederation, einer Gesundheitsdachorganisation, spricht die chronische Unterfinanzierung an: "Tatsache ist, dass wir immer noch den Preis für zehn Jahre Sparpolitik zahlen". Das Budget sei in jenen Jahren nur halb so stark gewachsen, wie es nötig gewesen wäre, so Taylor.
Regierung will Macht der Gewerkschaften beschränken
Unter den Labour-Regierungen zwischen 2000 und 2010 war der Gesundheitsetat pro Jahr um durchschnittlich 6,6 Prozent gestiegen. Mit der Sparpolitik der konservativ-geführten Regierungen war der Anstieg dann zunächst auf 1,1 Prozent gefallen, zwischen 2015 und 2020 lag er bei 2,2 Prozent.
Die Unterfinanzierung zeigt sich auch im Vergleich mit den 14 reichsten EU-Ländern: Im Zeitraum von 2010 bis 2019 waren die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Person in Großbritannien 18 Prozent niedriger als in der EU.
Angesichts der anhaltenden Streiks im Gesundheitsbereich und im öffentlichen Sektor generell will die Regierung nun die Macht der Gewerkschaften einschränken. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hat sie gestern ins Parlament eingebracht. Er sieht vor, dass in bestimmten Sektoren auch während Streiks eine Minimalversorgung aufrechterhalten werden muss.
Dies soll für die Bereiche Gesundheit, Bildung, Transport, Grenzschutz sowie Feuerwehr und Rettungsdienste gelten. Was genau eine Minimalversorgung darstellt und wie viel Personal daher von Streiks ausgeschlossen wäre, ist unklar. Wer zum Weiterarbeiten aufgefordert wird und sich weigert, soll vom Arbeitgeber entlassen werden können.
Pläne könnten Situation verschärfen
Die Opposition hält das Gesetzesvorhaben für kontraproduktiv und verweist darauf, dass angesichts von über 100.000 unbesetzten Stellen im NHS die Androhung, Personal zu feuern, keinen Sinn ergebe. Der Gewerkschaftsdachverband TUC wirft der konservativen Regierung vor, mit dem geplanten Gesetz fundamentale Arbeitnehmerrechte einschränken zu wollen, und die Gewerkschaft der Bahnmitarbeiter RMT spricht von einer geplanten Bestrafung von Arbeitnehmern, die für eine anständige Bezahlung kämpfen.
Der Gesetzgebungsprozess dürfte sich über viele Monate hinziehen. Auf die aktuellen Streiks wird die Neuregelung daher keine direkten Auswirkungen haben. Nur die Stimmung könnte noch gereizter werden.