Georgien Der ewige Protest
Demonstranten mit EU-Flaggen, die sich Wasserwerfern entgegen stellen - seit Jahren gibt es Proteste gegen die Regierung in Georgien. Im Herbst bestünde die Chance auf einen Machtwechsel, wenn es bis dahin eine wählbare Alternative gibt.
Es ist wie ein Ritual. Alle Monate kommt es in der georgischen Hauptstadt Tiflis zu Massenprotesten. Die Demonstranten schwenken Flaggen Georgiens und Europas. Sondereinheiten der Polizei marschieren in Schutzausrüstung auf. Sie setzen Pfefferspray, Gummigeschosse, Schlagstöcke und Wasserwerfer ein. Demonstranten werden festgenommen. Einige tragen Verletzungen davon.
Es entstehen ikonische Bilder von jungen Menschen, die sich mit der Europa-Flagge den harten Wasserstrahlen entgegen stellen. Sie werden als Helden gefeiert, die für die europäischen Werte kämpfen, die allzu viele Menschen in der EU nicht mehr zu schätzen wissen. Politiker aus der EU und den USA mahnen die Regierung, die Rechte der friedlichen Demonstranten zu wahren.
Instrument gegen die Regierungskritiker
In diesen Tagen ist die Stimmung besonders angespannt. Die Regierungspartei "Georgischer Traum" versucht zum zweiten Mal, ein Gesetz zu "ausländischer Einflussnahme" durch das Parlament zu bringen. Im vergangenen Jahr hatte sie es nach heftigen Straßenprotesten zurückgezogen, trotz Mehrheit im Parlament. Dieses Jahr tritt die Regierung entschlossener denn je auf.
Vor der Parlamentswahl im Herbst will sie sich offensichtlich ein Instrument verschaffen, um Regierungsgegner zu diskreditieren und sich Kontrollmöglichkeiten über NGOs und Medien zu verschaffen - harsche Strafen eingeschlossen, die diese Organisationen zum Aufgeben zwingen könnten. Als Rechtfertigung dient die Behauptung, dass die Menschen ein Recht auf Transparenz über die Finanzierung des zivilgesellschaftlichen Sektors hätten.
Der Mann hinter der Regierungspartei, der schwerreiche Geschäftsmann Bidsina Iwanischwili, ließ bei einer Rede am 29. April allerdings keine Zweifel. Auf einer Kundgebung der Regierungspartei gegen die seit Tagen andauernden Massenproteste griff er die Vereinte Nationale Bewegung (UNM) des inhaftierten Ex-Präsidenten Michail Saakaschwili an.
Der Geschäftsmann versprach, nach der Wahl im Oktober werde die UNM mitsamt allen anderen politischen Gegnern "die gebührende Strafe erhalten". Sie würden für alle "Verbrechen gegen das georgische Volk" zahlen. Dazu raunte er über eine nicht näher zugeordnete "globale Kriegspartei", die Georgien in einen Krieg gegen Russland treibe.
Besessenheit gegen politische Gegner
Was Iwanischwili heutzutage nicht mehr erwähnt: Einst unterstützte er Saakaschwilis Regierung finanziell aus dem Hintergrund, wie er tagesschau.de 2012 noch bestätigte. Dann überwarf er sich mit dem Präsidenten. Er habe seine Unternehmen und Beteiligungen in Russland verkauft, behauptete er damals, und trat mit seiner Partei "Georgischer Traum" gegen Saakaschwili an. Auf einer massiven Welle der Empörung über das autoritäre und brutale Vorgehen Saakaschwilis gegen die damalige Opposition gelangte der "Georgische Traum" an die Macht.
Zwölf Jahre später spricht aus den Worten Iwanischwilis noch immer Besessenheit gegen die Vorgänger im Amt. Doch so wie Saakaschwili nur noch ein Schatten seiner selbst ist, hat seine Partei im Konflikt um ihn und den daraus hervorgegangenen Abspaltungen ihre Kraft verloren. Die anderen Oppositionsparteien stehen in Umfragen noch weit schwächer da und müssen im Oktober um den Einzug ins Parlament bangen.
Autoritäre Partner
Der Regierungspartei "Georgischer Traum" hingegen ist es in ihren mittlerweile drei Amtszeiten gelungen, die wichtigen Positionen im Land mit ihren Leuten zu besetzen. Die autoritären Methoden, die sie einst Saakaschwilis Leuten vorwarf, praktiziere sie selber, so der Vorwurf der Demonstranten.
Sie werfen der Regierungspartei vor, Georgien zu einem Satellitenstaat Wladimir Putins gemacht zu haben. Tatsächlich ist das Land auf seinem Weg in die EU zurückgefallen. Es erhielt Ende 2023 nur den Kandidatenstatus, dies unter Auflagen, während die einst zurückliegenden Staaten Ukraine und Moldau schon einen Schritt weiter sind.
Die Regierungspartei engagiert sich in Partnerschaften mit China, Aserbaidschan und Ungarn. Den Sanktionen gegen Russland schloss sie sich nicht an. Sie stimmte stattdessen Direktflügen zu, so dass georgische Flughäfen für russische Reisende zu einem Drehkreuz nach Europa wurden. Gegen einen georgischen Ex-Staatsanwalt und angeblichen Vertrauten Iwanischwilis verhängte die US-Regierung Sanktionen, weil er mit dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB kooperiert haben soll.
Jedoch vermied es die Regierung bislang, offen pro Putin aufzutreten. Es gibt kein öffentliches Foto von Iwanischwili oder seiner Partei-Getreuen mit Putin. In der Bevölkerung sitzt das Misstrauen gegen Russland sitzt nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft tief. Russische Truppen kontrollieren zwei abtrünnige Gebiete Georgiens, ihre Raketen wenig mehr als 50 Kilometer von Tiflis entfernt. Auch deshalb liegt die Zustimmung der Georgier zur Aufnahme in EU und NATO seit Jahren hoch.
Wer könnte die Regierungspartei ablösen?
Auch jetzt rufen die Demonstranten die EU um Unterstützung. Nach der Parlamentswahl 2020 vermittelte EU-Ratspräsident Charles Michel mit Botschaftern westlicher Staaten zwischen der Regierungspartei und der Opposition. Allerdings waren es dann auch Oppositionsparteien, die sich nicht an den ausgehandelten Kompromiss hielten und das Parlament weiter boykottierten.
Oppositionelle wie Helen Koschtaria mit ihrer Partei Droa ("Es ist an der Zeit") sehen sich seit Jahren so sehr durch die Regierung eingeschränkt, dass sie an der Möglichkeit konstruktiver Abgeordnetenarbeit und an einem regulären Machtwechsel zweifeln.
Allerdings geraten über dem Kampf zwischen Regierungspartei und auf Konfrontation ausgerichteten Oppositionellen besonnenere Stimmen in den Hintergrund, ebenso die wirklichen Bedürfnisse der Menschen. Seit Jahren stehen in Umfragen die Sorgen um ein ausreichendes Auskommen sowie die Verbesserung an erster Stelle.
Klare Option für die Parlamentswahl
Bislang hat es keine Oppositionspartei geschafft, diese Bedürfnisse so zu einem Programm zu formulieren, dass sie Zustimmung aus der breiten Bevölkerung, vor allem auch von den konservativ orientierten Menschen in den Regionen erhalten würde. Auch unter jenen, die derzeit allabendlich auf den Straßen der Hauptstadt und in der Hafenstadt Batumi demonstrieren, gibt es - noch - keine klaren Führungsfiguren.
Dabei stünden die Chancen für eine geeinte Opposition bei der Parlamentswahl im Herbst gut, wenn die EU klarmacht, dass es mit der jetzigen Regierungspartei und ihrem autoritären Vorgehen nicht den erhoffte Beginn der Beitrittsverhandlungen geben wird. Dann hätten die Wähler eine klare Option, für oder gegen den weiteren Weg in die EU zu stimmen. Hielten sich viele Politiker in der EU bislang mit solch klaren Aussagen zurück, wird die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen nun immer offener infrage gestellt.
Bisherige Umfragen deuteten darauf hin, dass die Regierungspartei wieder gewinnen könnte, dies sogar mit einer verfassungsgebenden Mehrheit. Dann wäre ein weiterer Stillstand absehbar und als Folge neue wütende Proteste der Unzufriedenen, von denen immer mehr auch das Land verlassen.