75 Jahre Genfer Konventionen Ein zerbrechliches Versprechen
Als Lehre aus den Weltkriegen wurden 1949 die Genfer Konventionen unterzeichnet. Doch in Konflikten weltweit wird gegen die Eckpfeiler des humanitären Völkerrechts verstoßen. Hat die Welt ihr eigenes Versprechen vergessen?
Ein Mindestmaß an Menschlichkeit muss gelten - auch in Kriegszeiten. Das ist das Versprechen, das sich die Welt am 12. August 1949 mit den Genfer Konventionen gab. Ratifiziert von allen Staaten gelten sie weltweit, für alle. Sie sind die Basis des humanitären Völkerrechts: In der Barbarei des Krieges verlangt es unter anderem den Schutz von Zivilpersonen und einen menschenwürdigen Umgang mit Kriegsgefangenen.
"Grund zum Feiern haben wir nicht, leider", sagt Mirjana Spoljaric Egger, Präsidentin des IKRK, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Mutmaßliche und offensichtliche Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht dominieren die Nachrichten - beim russischen Großangriff auf die Ukraine, im Nahost-Konflikt, im Sudan, in vielen weiteren Kriegen weltweit.
Mehr als 120 bewaffnete Auseinandersetzungen
Das IKRK ist die Hüterin des humanitären Völkerrechts - entsprechend der Aufruf der Präsidentin zum 75. Jahrestag. "Genau heute in diesem Umfeld müssen Staaten die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu ihrer Priorität erklären", sagt sie. Es gebe mehr als 120 bewaffnete Auseinandersetzungen, deren regionale und globale Auswirkungen nicht mehr kontrollierbar seien. "Aus meiner Sicht ist es dringend, dass die Staaten sich darauf besinnen, dass sie ein internationales Regelwerk haben, das noch heute in seinem Kern von allen Staaten anerkannt wird."
Aber wird es das tatsächlich? Der Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober war offenkundig ein Völkerrechtsbruch, denn er richtete sich sogar gezielt gegen Zivilpersonen. Israels Gegenoffensive wird völkerrechtlich zwar als Selbstverteidigung gebilligt - aber Zehntausende zivile Opfer in Gaza und zuletzt die Aussage eines israelischen Ministers, das Aushungern der Zivilbevölkerung sei moralisch gerechtfertigt, zeugen nicht von Respekt vor den Genfer Konventionen.
Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs laufen gegen Hamas-Führer, israelische Politiker und auch Russlands Präsident Wladimir Putin. Überall geht es um das Leiden und Sterben unschuldiger Menschen.
Die Genfer Konventionen sind zwischenstaatliche Abkommen und bilden einen der Eckpfeiler des humanitären Völkerrechts. Sie regeln im Fall eines Krieges den Schutz der Zivilbevölkerung oder von Personen, die nicht an den Kampfhandlungen teilnehmen.
Das erste Genfer Abkommen entstand 1864. Dieser Grundstein wurde 1949 bei einer diplomatischen Konferenz mit knapp 20 Staaten ergänzt. Inzwischen haben 196 Länder die Genfer Konventionen ratifiziert.
Die vier Genfer Konventionen bestimmen die Behandlung von Verwundeten und Kranken an Land und auf See, den würdigen Umgang mit Kriegsgefangenen und den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Später wurden Zusatzprotokolle hinzugefügt.
Glaubwürdigkeit wird unterminiert
Russlands Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht aber seien auch für das Recht selbst zerstörerisch, sagt Marco Sassòli, Völkerrechtsprofessor an der Uni Genf. Dass Russland gar nicht versuche, sich nach humanitärem Völkerrecht zu rechtfertigen, gebe den Eindruck, dass es Putin gleich sei. "Dass ein so großes Land, ständiges Mitglied im Sicherheitsrat, nicht versucht, zumindest rhetorisch, wie das die Israeli und die Amerikaner immer machen, zu sagen: 'Wir halten das ein und wir erklären Euch jetzt, wie das war'. Und wir können dann bewerten: Haben die das auch wirklich gemacht?"
Wenn einer es hingegen gar nicht versuche zu rechtfertigen, unterminiere das die Glaubwürdigkeit des humanitären Völkerrechts, denkt Sassòli. "Ich sage immer meinen Studierenden, Hypokrisie unterstützt das Recht, weil sich dann zumindest alle einig sind, so sollte es sein."
Noch hält der Konsens
Fraglich ist, ob sich in der polarisierten Welt von heute die internationale Gemeinschaft noch auf humanitäre Regeln wie die Genfer Konventionen einigen könnte. Umso wichtiger ist es, dass es sie gibt, verabschiedet von allen Staaten nach den Gräuel des Zweiten Weltkriegs, als die Welt beschloss, es künftig besser zu machen.
"Ich spekuliere nicht darüber, bewusst nicht darüber, ob das heute möglich wäre", sagt IKRK-Präsidentin Spoljaric Egger, "weil ich bin froh, dass dieser Konsens heute noch hält." Zwar werde das Recht nicht überall eingehalten, es gebe Verstöße gegen dieses Recht, "aber noch kein Staat, noch kein Staatenführer kam zu mir und hat mir gesagt, ich möchte aus diesen Konventionen austreten. Und das ist das Wichtige, und das ist unsere Chance für die Zukunft".