Frankreich Kampagne gegen Inzest und sexuelle Gewalt
Täglich werden in Frankreich mehr als 450 Kinder sexuell missbraucht - 80 Prozent sind Inzestfälle. Die Regierung will dagegen jetzt mit einer Kampagne vorgehen.
Ein kleines Mädchen mit Zopf sitzt auf der Kante ihres Bettes. An der Wand bunte Kinderzeichnungen. "Er hat mir gesagt: Das ist unser kleines Geheimnis, nur für uns zwei. Er ist in mein Zimmer gekommen und er hat mir gesagt, wir beide können Sachen machen, die die Großen tun."
Nervös fährt sie mit einem Fuß über den Teppich, knetet ihre Hände und schaut erschrocken auf, als vor ihrem Fenster eine Autotür zugeschlagen wird. "Heute Abend wird er wieder auf mich aufpassen. Das will ich nicht wirklich. Aber ich kann es nicht sagen. Es ist doch ein Geheimnis", betont das kleine Mädchen, hält ihre Knie umschlungen und einen Hasen am rechten Ohr. Ihr Blick traurig, verloren, nach unten gerichtet und dann direkt auf den Zuschauer.
"Sie begegnen die ganze Zeit betroffenen Kindern"
Mit diesem Aufklärungsvideo will Frankreichs Regierung das Inzestproblem im Land angehen. Die Staatssekretärin für Kinder, Charlotte Caubel, ist angesichts der Dimensionen des Missbrauchs erschüttert: "Sie gehen heute in eine Klasse, und zwei bis drei Kinder davon werden künftig Inzest erleiden oder erdulden ihn schon. Unter zehn Erwachsenen hat einer in seiner Kindheit Inzest ertragen müssen. Was heißt das? Dass Sie die ganze Zeit betroffenen Kindern begegnen - und die ganze Zeit auch den Aggressoren."
70 Prozent der Anzeigen laufen ins Leere
Das Tabu wurde jüngst auch von Prominenten gebrochen. In ihrem Buch "La Familia Grande" deckte die Autorin Camille Kouchner 2021 den Missbrauch ihres Bruders durch den Stiefvater auf, einen bekannten Politologen und Ex-Europaabgeordneten.
Daraufhin wurde die "Unabhängige Kommission über Inzest und sexuelle Gewalt gegen Kinder" gegründet. Richter Edouard Durand ist ihr Co-Präsident. Inzest sei die Geschichte eines Verweigerns, einer Gesellschaft, die so tut, als gäbe es das nicht, so Durand. 70 Prozent der Anzeigen würden ins Leere laufen. Nur drei Prozent der Anzeigen wegen Vergewaltigung Minderjähriger endeten mit einer Verurteilung. "Man muss gegen die Straffreiheit der Aggressoren kämpfen", lautet sein Appell.
Das tut auch Schauspielerin Emmanuelle Béart, die in diesen Tagen nicht nur in eigener Sache ihren Dokumentarfilm "Lärmende Stille" vorstellt. Darin heißt es unter anderem: "Ich bin elf Jahre alt. Es ist Nacht. Du zerreißt meinen Schlaf so, wie Du mein Nachthemd zerreißt - ohne jeden Lärm. Und wenn meine Mutter, mein Vater, meine Schule, meine Freunde nichts sehen, dann kann das alles wieder geschehen. Und Du wirst es vier Jahre lang immer wieder machen."
Gesetz soll Tätern das Sorgerecht entziehen
Die Regierung geht nun also das Thema an. Seit die zuständige Staatssekretärin vor gut einem Jahr in die Regierung gekommen ist, hat Charlotte Caubel bereits ein Gesetz angekündigt, das Partnern, die wegen Inzest oder familiärer Gewalt angeklagt oder verurteilt sind, das Sorgerecht entziehen soll.
Schon jetzt setzt sie auf Aufklärung durch die Kampagne. "Diese Kampagne richtet sich an die Erwachsenen. Damit in einigen Wochen dank der Wortmeldungen, des Engagements von starken Menschen, dank dieser Kampagne niemand mehr sagen kann: Das habe ich nicht gewusst!" Seit zwei Jahren müssen zudem Kinder in Frankreich vor Gericht nicht mehr nachweisen, dass sie mit sexuellen Übergriffen nicht einverstanden waren. Sie gelten nun bis zum 18. Lebensjahr als nicht einwilligungsfähig.
Am Ende des Aufklärungsvideos wird dann jeder in die Pflicht genommen. "Alle drei Minuten wird ein Kind Opfer von Inzest, Vergewaltigung oder sexueller Gewalt. Beim geringsten Zweifel - rufen Sie die 119 an!"