Studie der Uni Zürich 1.000 Missbrauchsopfer in katholischer Kirche der Schweiz
In der katholischen Kirche der Schweiz sind einer Studie zufolge seit Mitte der 50er-Jahre Hunderte Menschen Opfer sexueller Gewalt geworden - vor allem Kinder. Die aufgedeckten Fälle seien nur die "Spitze des Eisbergs". Die Studie ist noch nicht abgeschlossen.
In der Schweiz sind mindestens 1.002 Fälle von sexuellem Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche seit den 1950er-Jahren aufgedeckt worden. Es seien 510 Beschuldigte und 921 Betroffene identifiziert worden, berichteten Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich bei der Vorstellung ihrer Studie.
Es war das erste Mal, dass ein unabhängiges Forschungsteam in kirchlichen Archiven in der Schweiz Akten über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche einsehen konnte.
Forscherinnen gehen von großer Dunkelziffer aus
"Bei den identifizierten Fällen handelt es sich zweifellos nur um die Spitze des Eisbergs", teilten die Professorinnen Monika Dommann und Marietta Meier mit, die das Projekt leiteten. Zahlreiche andere Fälle seien "verschwiegen, vertuscht oder bagatellisiert" worden.
Es sei auch anzunehmen, dass nur ein kleiner Teil der Fälle gemeldet worden sei. Zudem seien viele Archive bisher nicht zugänglich, teils seien auch Akten vernichtet worden. Aufgedeckt worden seien Fälle von "problematischen Grenzüberschreitungen bis hin zu schwersten, systematischen Missbräuchen, die über Jahre hinweg andauerten".
Drei Viertel der Opfer waren minderjährig
Rund 39 Prozent der Betroffenen waren weiblich, knapp 56 Prozent waren männlich. Bei fünf Prozent habe sich das Geschlecht in den Quellen nicht eindeutig feststellen lassen. Die Beschuldigten seien bis auf wenige Ausnahmen Männer gewesen. Mit 74 Prozent war der Großteil der Opfer minderjährig, "von Säuglingen und vorpubertären Kindern bis hin zu postpubertären jungen Erwachsenen", heißt es in der Studie. 14 Prozent betrafen Erwachsene, 12 Prozent der Fälle waren uneindeutig über das Alter der Betroffenen.
Täter waren katholische Kleriker, kirchliche Angestellte und Ordensangehörige in der Schweiz. Als Räume für Missbrauch im kirchlichen Umfeld machen die Forscher vor allem Seelsorge, Bildungsbereich sowie religiöse Orden und neue geistliche Gemeinschaften mit ihren jeweils besonderen Machtkonstellationen aus. Dazu gehörten Beichtgespräche, Ministrantendienst und Religionsunterricht.
Taten wurden vertuscht, Täter geschützt
Die Verfasser der Studie stellen fest, dass das kirchliche Strafrecht vielfach kaum angewendet worden sei. Vielfach hätten Amtsträger vertuscht oder abgewiegelt. Beschuldigte und auch überführte Geistliche seien weiterversetzt worden, manchmal auch ins Ausland - auch, um weltlichen Strafen zu entgehen. "Dabei wurden die Interessen der katholischen Kirche und ihrer Würdenträger über das Wohl und den Schutz von Gemeindemitgliedern gestellt", hieß es in der Studie.
Selbst wenn Kleriker strafrechtlich verurteilt wurden, wurden sie oft von den Bistümern geschützt und durften weiterhin mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, wie Fallbeispiele aus der Studie zeigen.
Staatliche Mitverantwortung soll untersucht werden
Das Pilotprojekt ist der erste systematische Versuch, sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche in der Schweiz wissenschaftlich zu fassen und zu umreißen. Eine größere Untersuchung soll folgen und in drei Jahren vorliegen. Dann sollen auch Archive eingesehen werden, die bisher nicht eingesehen werden konnten, wie etwa von katholischen Heimen, Schulen und Ordensgemeinschaften.
Auch die Rolle des Staates soll untersucht werden. "Zukünftig genauer untersucht werden sollte unter anderem die Mitverantwortung des Staates, vor allem im sozialkaritativen und pädagogischen Bereich, weil hier besonders in katholischen Gebieten oft Aufgaben an die Kirche delegiert wurden", teilte die Universität mit.
Bischofskonferenz zeigt sich entsetzt
Den Auftrag für die Studie gaben die Schweizer Bischofskonferenz, die Konferenz der Ordensgemeinschaften sowie die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ), die kirchliche Organisation der Kantone. Die Schweizer Bischofskonferenz zeigte sich entsetzt über die Ergebnisse der Studie.
Sie zeigten Abgründe auf, sagte der Vorsitzende, Bischof Felix Gmür. "Zu viele kirchliche Führungspersonen haben jahrzehntelang verantwortungslos gehandelt", räumte Gmür ein. "Sie haben die Betroffenen nicht ernstgenommen und die Täter geschützt. Sie standen auf der falschen Seite." Diese Schuld könne nicht einfach weggewischt werden. "Hinter jeder Zahl steht ein Mensch, ein Gesicht, ein Leben, das zerstört wurde", so der Vorsitzende der Bischofskonferenz.
Psychologische Test sollen Übergriffe verhindern
Die Mitglieder der Bischofskonferenz erkannten dieses Leid und die Schuld der Kirche an und wollten alles Menschenmögliche unternehmen, "damit die Betroffenen Gerechtigkeit erfahren und sexuelle Missbräuche in Zukunft verhindert werden", sagte Gmür und kündigte konkrete Maßnahmen an.
Die Mitglieder der Bischofskonferenz hätten gemeinsam mit den kantonalen Körperschaften und Ordensgemeinschaften beschlossen, unabhängige Meldestellen zu schaffen und zu finanzieren. Auch versprach er eine Professionalisierung des Personalwesens und der Personalauswahl. Künftig müssten alle Kandidatinnen und Kandidaten für eine Ausbildung in der Seelsorge einheitliche psychologische Tests durchlaufen.