Flüchtlinge auf einem Boot der spanischen NGO "Open Arms" im Mittelmeer
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Reform des Asylrechts Wie Europa künftig mit Geflüchteten umgehen will

Stand: 09.06.2023 14:40 Uhr

Der von Deutschland mitgetragene Kompromiss für schärfere EU-Asylregeln ebnet den Weg für Asylverfahren an Europas Außengrenzen. Auch setzt er auf mehr Solidarität innerhalb der EU. Die Einigung im Überblick.

Was bedeutet die Einigung?

Sie ermöglicht erstmals Schnellverfahren an Europas Außengrenzen, um zu klären, ob Schutzsuchende einen Asylantrag stellen dürfen. Ziel ist es, Menschen aus sicher geltenden Ländern, die nur eine geringe Bleibeperspektive haben, erst gar nicht in die EU einreisen zu lassen. Dafür soll es sogenannte Asylzentren in Grenznähe geben - also faktisch streng gesicherte Bereiche oder Einrichtungen. Dort würde dann im Idealfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat - wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden. Die Gesamtdauer des Asyl- und Abschiebeverfahrens an der Grenze sollte nicht mehr als sechs Monate betragen, heißt es dazu vom Rat der EU. Auch Deutschland soll künftig solche Schnellverfahren an seinen internationalen Flughäfen ausführen.

In dem Verfahren wird die Aussicht auf einen Erfolg eines regulären Asylverfahrens thematisiert, indem die statistische Anerkennungs- bzw. Schutzquote von Antragstellern aus den betreffenden Ländern betrachtet wird. Verfahren sollen vorerst nur bei Migranten aus Ländern greifen, die im EU-Schnitt eine Anerkennungsquote von unter 20 Prozent haben. Das gilt etwa für Menschen aus der Türkei, Indien, Tunesien, Serbien oder Albanien. Je nach Ausgang des Grenzverfahrens können Antragsteller dann entweder zurückgeschickt oder bei entsprechender Beurteilung der Chancen dann für die Durchführung eines regulären Asylverfahrens ins Land gelassen werden.

Zudem soll die Überwachung und Abschiebung abgelehnter Asylsuchender erleichtert werden, zum Beispiel, indem mehr Daten über sie gesammelt und zentral gespeichert werden.

Für wen gelten die schnellen Verfahren nicht?

Die Mehrheit der Flüchtlinge soll nach EU-Angaben weiter Recht auf ein normales Verfahren haben, das in der Regel in den Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen durchgeführt wird. Aus dem Bundesinnenministerium heißt es dazu: "Die Verfahren an den Außengrenzen sollen nicht für Menschen gelten, die vor Folter, Krieg und Terror geflohen sind." Es gehe um "schnelle und faire Asylverfahren für diejenigen, bei denen nur eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie in der EU Schutz benötigen."

Wie soll besonders belasteten EU-Ländern geholfen werden?

Wenn Länder mit einem sehr großen Zustrom an Menschen konfrontiert sind, sollen sie über einen Solidaritätsmechanismus Unterstützung von anderen Mitgliedstaaten beantragen können. Eine bestimmte Anzahl an Schutzsuchenden würde dann über einen Verteilungsschlüssel in andere Länder kommen. Staaten, die sich daran nicht beteiligen wollen, müssten für jeden nicht aufgenommenen Menschen eine Kompensationszahlung leisten.

Italien etwa würde von dieser Regelung profitieren. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats wurden in Italien in diesem Jahr bereits mehr als 50.000 Migranten registriert, die über das Mittelmeer kamen. 

"Ausnahmen für unbegleitete Minderjährige", Tobias Reckmann, ARD Brüssel, zzt. Luxemburg, zur Verschärfung des Asylrechts

tagesschau24, 09.06.2023 09:00 Uhr

Wohin kann abgeschoben werden?

Italien, Griechenland und Österreich setzten sich mit der Forderung durch, abgelehnte Migranten in sogenannte sichere Drittstaaten abschieben zu können. Dazu zählen diese Länder etwa Tunesien oder Albanien. Eine Durchreise durch eines dieser "sicheren Staaten" auf der Flucht nach Europa reicht demnach künftig aus, um dorthin abgeschoben zu werden. Deutschland wollte dies verhindern, wenn die Abgeschobenen keine enge Verbindung zu den Drittländern haben, etwa über ihre Familie.

Bei der Definition eines "sicheren Drittstaaats" lässt der Kompromiss zudem Ausnahmen zu. So kann sie sich nur auf Landesteile oder bestimmte Personengruppen eines Landes beziehen. Bliebe es bei dem Vorschlag der EU-Innenminister, könnte das bedeuten, dass zum Beispiel Menschen aus Syrien oder Afghanistan, die über einen "sicheren Drittstaat" in die EU kommen, dorthin abgeschoben werden dürften.

Wie viele Menschen suchen Schutz in Europa?

Im vergangenen Jahr wurden in den 27 Mitgliedstaaten 881.200 Erstanträge gestellt. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutete dies ein Plus von 64 Prozent. Stattgegeben wird im EU-Schnitt nicht einmal jedem zweiten Antrag. In Deutschland stellten nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 125.556 Menschen erstmals einen Asylantrag. Das waren fast 77 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.

Wie verhielt sich die Bundesregierung in den Verhandlungen?

Bundesinnenministerin Nancy Faeser nannte die Einigung in Luxemburg "historisch" und sprach von einer "neuen, solidarischen Migrationspolitik". Nicht durchsetzen konnte sich Faeser allerdings mit der Forderung, dass Familien mit Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren von Grenzverfahren ausgenommen werden. Noch nicht mal eine Handvoll Länder unterstützte die Bundesregierung. Die deutsche Forderung wurde in einer sogenannten Protokollnotiz festgehalten, einer schriftlichen Zusatzerklärung. Portugal, Irland und Luxemburg schlossen sich der Notiz an. Allerdings sei es gelungen, dass unbegleitete Minderjährige nicht in das Grenzverfahren müssten, sagte die Ministerin.

Was sagen Kritiker?

Pro Asyl sprach von einem "Frontalangriff auf das Asylrecht", von einem "historischen Fehler" der Ampel-Regierung. Die Bundesregierung nehme in Kauf, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ausverkauft würden. Migrationsforscher Bernd Kasparek sagte, jeder sollte das Recht haben, ein Asylbegehren vorbringen und prüfen lassen zu können. Das, was nun an den Grenzen geschehen solle, sei aber kein Asylverfahren mehr. Die Menschen könnten ihre Fluchtgründe nicht mehr vorbringen und inhaltlich prüfen lassen. Es werde nur noch aufgrund einer groben Kategorisierung geschaut, ob Personen Zugang zum Asylverfahren bekommen sollten.

C. Mestmacher, ARD Berlin, über die Spaltung der Grünen beim neuen EU-Asylrecht

tagesschau24, 09.06.2023 15:00 Uhr

Von den Ampel-Parteien sehen sich besonders die Grünen, aber auch die SPD, scharfer Kritik von Anhängern ausgesetzt. Der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt sagte: "Im Rat gab es mit deutscher Zustimmung einen Durchmarsch populistischer Positionen." Man werde sich aber im EU-Parlament dafür einsetzen, "dass der Rat mit seinem Großangriff auf das Asylrecht nicht erfolgreich ist". Marquardt wirft den Innenministern vor, ihre Definition von "sicheren Drittstaaten" mache die Haupttranistländer Türkei, die Maghreb-Staaten, Teile Libyens oder Ägypten zu solchen Staaten. Zudem werde es den Mitgliedsstaaten künftig nicht verboten, Menschen in Grenzlagern festzusetzen, die eine Anerkennungsquote von mehr als 20 Prozent haben.

Auch die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang erklärte, Deutschland hätte den Reformplänen nicht zustimmen dürfen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hakan Demir sagte, er hoffe, dass das EU-Parlament noch Korrekturen vornehmen könne.

Gibt es nun keinen Streit in der EU mehr?

Doch. Polen und Ungarn lehnen die EU-Asylreform kategorisch ab. Sie sollen künftig ein Zwangsgeld von 20.000 Euro für jeden Migranten zahlen, den sie nicht aufnehmen. Das Geld soll in einen Fonds fließen, aus dem Migrationsprojekte finanziert werden. Ob Warschau oder Budapest jemals zahlen, ist ungewiss.

Wie geht es nun weiter?

Ungarn und Polen wollen das Thema auf dem EU-Gipfel am 29. und 30. Juni in Brüssel wieder auf den Tisch bringen. Zudem müssen sich die EU-Länder noch mit dem Europaparlament verständigen. Das gilt als sehr schwierig, da die Positionen laut Diplomaten "meilenweit" auseinanderliegen. Die Bundesregierung drängt auf einen Abschluss der Asylreform bis zur Europawahl im Juni 2024. Sollte dies nicht gelingen, könnten veränderte politische Kräfteverhältnisse Neuverhandlungen nötig machen.

Mit Material von AFP und dpa

Astrid Corall, WDR Brüssel, zzt. Luxemburg, tagesschau, 09.06.2023 05:39 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 09. Juni 2023 um 09:00 Uhr.