Populistische Parteien Wo in Europa die EU-Skepsis wächst
Bei der Europawahl im Juni zeichnen sich große Zugewinne für Parteien ab, die als EU-kritisch gelten. Im Wahlkampf nutzen sie Sorgen und Ängste der Menschen - mit Erfolg, obwohl diese gar nicht immer begründet sind.
Susi Dennison vermeidet persönliche Einschätzungen lieber. Die Expertin von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) hält sich lieber an Zahlen und Statistiken. Doch beim Blick auf die Stimmung kurz vor der Europawahl gibt sie zu, besorgt zu sein. Europas Bürger seien verunsichert, nach Jahren der Krise: Erst die Finanzkrise, dann Corona, mittlerweile der Krieg gegen die Ukraine. Viele hätten das Gefühl, dass die großen Entscheidungen ohne sie gefällt werden, sagt Dennison - und das wollten die Menschen nicht mehr akzeptieren.
Bei der Europawahl könnte sich das in besonders vielen Proteststimmen niederschlagen, legt eine aktuelle Studie des ECFR nahe. In einem Drittel aller EU-Länder könnten europakritische Kräfte demnach auf dem ersten Platz landen, in einem weiteren Drittel auf Platz zwei. Damit würden sie stärker als je zuvor bei einer Europawahl abschneiden.
Mehr EU-Skeptiker denn je in Belgien
Die Denkfabrik hat errechnet, wie hoch das Wählerpotenzial für Europaskeptiker in den einzelnen Ländern mittlerweile ist. Fast überall hat es seit der letzten Europawahl 2019 zugenommen. In Deutschland etwa hat sich die Zustimmung verdoppelt auf nun 26 Prozent - der größte Teil davon entfällt auf die AfD.
In Österreich liegt das Wählerpotenzial europakritischer Parteien schon bei 30 Prozent, in Frankreich bei 42 Prozent. In Ungarn und Polen sind die Werte zuletzt zwar gesunken, liegen aber immer noch bei über 50 Prozent.
Am stärksten zugenommen hat der Zuspruch in Belgien: Dort kommen europakritische Kräfte inzwischen auf 60 Prozent der Stimmen. In der Berechnung werden dabei sowohl linke wie rechte europakritische Parteien berücksichtigt - in Belgien etwa flämisch-nationalistische Kräfte, aber auch die Kommunisten.
Rechts- und linkspopulistische Kräfte
Denn es sei ein Trugschluss, dass Europakritik automatisch rechts sein müsse, sagt Paul Schmidt von der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik. Zwar sei extremer Nationalismus ein Merkmal rechter Parteien. Eine stärkere Abgrenzung gegen Europa sei aber längst in allen Schattierungen des politischen Spektrums zu finden und färbe ab auf die gemäßigte Mitte. Gerade bei Aufregerthemen werde Europa gern zum Sündenbock gemacht, sagt Schmidt: "Als ob wir nicht mit dabei wären, wenn Entscheidungen getroffen werden".
Die Folge: Viele Menschen sind sich nicht mehr sicher, ob die EU-Mitgliedschaft ihres Landes vorteilhaft ist. In Deutschland sind es derzeit nur 68 Prozent, das geht aus dem aktuellen Eurobarometer hervor. Im EU-Vergleich ist das noch oberes Mittelfeld - in anderen Ländern ist nicht einmal mehr die Hälfte noch von der EU-Mitgliedschaft überzeugt. Am schlechtesten ist das Image in Österreich.
Das bedeute zwar nicht, dass mehr als die Hälfte der Befragten die EU grundsätzlich ablehnen, meint Schmidt. Aber zumindest hätten sie Zweifel daran, ob Europas Institutionen großen Herausforderungen gewachsen sind.
Selbst schuld an enttäuschten Erwartungen?
Welche Probleme es sind, bei denen sich die Menschen mehr von Europa erwarten, auch das hat das Eurobarometer ermittelt. Vier Hauptsorgen werden in ganz Europa genannt: die Inflation, die internationale Sicherheitslage, Migration und das Klima.
Dabei gibt es allerdings starke lokale Unterschiede: So spielt in Deutschland und den Niederlanden die Migration eine überdurchschnittliche Rolle, während in Schweden die Sorge ums Klima mehr als doppelt so groß ist wie im EU-Schnitt.
Themen, für die es keine schnellen Lösungen gebe, sagt Schmidt. Genau das aber suggeriere die EU-Politik häufig. Zum Teil sei Brüssel also selbst schuld am schlechten Image: "Erwartungen werden geschürt, die so nicht erfüllt werden. Und das führt natürlich zu einem gewissen Frustrationspotenzial und zu Enttäuschungen."
Den Exit will kaum eine Partei mehr
Europakritiker befeuern diese Stimmung. Allerdings fordern nur noch wenige in der Konsequenz einen EU-Austritt ihres Landes. Seit dem Brexit ist das unpopulär, außer dem Niederländer Geert Wilders fordert kaum eine Partei in Europa den offenen Bruch.
Auch die AfD hat einen "Dexit" nicht im Europawahlprogramm stehen, obwohl er intern immer wieder diskutiert wurde. Inzwischen aber will man lieber darauf setzen, die EU von innen umzubauen. Die meisten europakritischen Bewegungen setzen auf stärkere Nationalstaaten.
Was das bedeutet, hat Susi Dennison für das Pariser Büro des ECFR berechnet: Bis zu 37 Prozent der Sitze könnten im nächsten EU-Parlament an Europakritiker gehen. Genug, um gemeinsame Lösungen zu behindern. Ihre größte Sorge sei aber nicht das Erstarken der Populisten, sagt die Meinungsforscherin. Sondern dass die progressiven Kräfte dem immer weniger entgegensetzen. Enttäuscht würden Wähler dann auf die Extremisten setzen, aus Mangel an Alternativen. Und das sei "frustrierend und besorgniserregend" - aber nicht besonders überraschend.
Diese und weitere Reportagen sehen Sie am 24.03.2024 um 12:45 Uhr im "Europamagazin".