Niederlande Junge Niederländer stellen Holocaust infrage
Antijüdische Fußballfans, Anfeindungen, Übergriffe: In den Niederlanden nimmt Antisemitismus zu. Gerade bei Jüngeren ist Holocaust-Relativierung wieder salonfähig. Woran liegt es, und was kann dagegen unternommen werden?
Die Prinsengracht 263 in Amsterdam ist eine Adresse, die in den Niederlanden fast jeder kennt. Denn es ist das Haus, in dem sich zwischen 1942 und 1944 Anne Frank mit ihrer Familie vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung versteckte und ihr berühmtes Tagebuch schrieb. Heute ist das Haus ein Gedenkort, jeden Tag kommen Tausende Besucher aus aller Welt.
Auch jeder dritte Niederländer ist bereits hier gewesen, oft im Rahmen des Schulunterrichts. Und das hinterlässt Eindruck. Sie sei mit einem Überlebenden des Krieges dort gewesen, erzählt eine junge Frau. Die persönliche Dimension habe sie berührt. Eine andere ergänzt: Hier könne man lernen, was damals geschehen sei - und nie wieder geschehen dürfe.
Die langen Schlangen vor dem Anne-Frank-Museum können nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine erhebliche Zahl von Niederländern den Holocaust relativiert.
Zwölf Prozent zweifeln an der Geschichtsschreibung
Es gibt allerdings auch andere Stimmen. Ein junger Mann, der vor dem Museum unterwegs ist, gibt zu: Er sei niemals dort gewesen, und so richtig interessiere ihn das auch nicht. Schließlich habe man schon in der Schule alles über das Thema gelernt. Eigentlich werde ihm zu viel über den Holocaust gesprochen.
Dass es in den jüngeren Generationen nicht gerade zum Besten steht, was das Wissen über den Holocaust betrifft, das haben die Niederlande nun auch schwarz auf weiß. Anfang des Jahres erschütterte eine Studie der Jewish Claims Conference das Land. Dafür waren Menschen in verschiedenen Ländern nach ihrem Verhältnis zur Geschichte befragt worden.
Zwölf Prozent der Niederländer antworteten, sie zweifelten an der offiziellen Geschichtsschreibung. Bei den unter 40-Jährigen waren es aber deutlich mehr: Fast ein Viertel relativierte laut Studie den Holocaust. Es sind die höchsten Werte, die in den Niederlanden je gemessen wurden.
Der Wertekanon verblasst
An der Methodik der Befragung gab es auch viel Kritik, an den Zahlen nicht. Sie decken sich mit Erkenntnissen der niederländischen Regierung. Für das Selbstbild des Landes ist das dramatisch. Lange glaubten die Niederlande, bei der Vergangenheitsbewältigung besonders vorbildlich zu sein. An Gedenktagen gibt es keinen Mangel, in den Schulen ist das Thema Pflicht. Dennoch erreicht das offenbar immer wenige junge Menschen.
Das liege auch an den sozialen Medien, glaubt Eddo Verdoner. Der nationale Antisemitismusbeauftragte der Niederlande sagt: Menschen bewegten sich immer mehr in Blasen, bekämen alternative Wirklichkeiten präsentiert. Zusätzlich sei die Gesellschaft immer polarisierter, und die Zeit des Nationalsozialismus rücke immer mehr in die Vergangenheit. "Das alles führt dazu, dass unser gesellschaftlicher Wertekanon verblasst", so Verdoner. Und dadurch werde die Bevölkerung empfänglicher für Verschwörungstheorien.
Das gilt nicht nur in den Niederlanden, sondern europaweit. Die Studie der Jewish Claims Conference zeigt: Auch anderswo sind es vor allem die jüngeren Generationen, die zunehmend den Holocaust in Zweifel ziehen.
Die Folge sei, dass sich antisemitische Denkmuster wieder verbreiten. Das beobachtet die Europäische Agentur für Grundrechte. Sie befragt regelmäßig 16.000 Jüdinnen und Juden in ganz Europa, wie sie ihren Alltag wahrnehmen. Die Ergebnisse sind erschreckend.
Den Opfern einen Namen geben: In Amsterdam erinnert ein Mahnmal an die Jüdinnen und Juden und Sinti und Roma, die von den deutschen NS-Besatzern verhaftet, deportiert und ermordet wurden.
"Dann macht das moderne Europa keinen Sinn mehr"
90 Prozent der Befragten gaben zuletzt an, dass zunehmender Antisemitismus ihnen Sorge mache. Gut ein Drittel hatte selbst diskriminierende Erfahrungen gemacht. Diese Trends verschärften sich seit Jahren, heißt es bei der EU-Agentur. Eine aktuelle Auflage der Studie ist in Arbeit. Er erwarte leider keine positive Wendung, so der Chef der EU-Agentur Michael O’Flaherty.
Was ihn besonders erschüttert: 38 Prozent der befragten Jüdinnen und Juden tragen sich mit dem Gedanken auszuwandern, vor allem nach Israel oder in die USA. Das dürfe nicht passieren. Verjage Europa seine jüdische Bevölkerung, dann sei das mehr als ein kultureller Verlust. "Dann wird das moderne Europa sinnlos", so der EU-Beamte. Denn das europäische Projekt baue schließlich auf den Erfahrungen des Holocaust auf.
Was also tun? Die EU-Agentur empfiehlt einen neuen Ansatz bei der Geschichtsvermittlung. Da kaum noch Überlebende übrig seien, die von ihren Erfahrungen berichten können, müsse es neue Wege geben, um Geschichte persönlich erfahrbar zu machen. Das nehmen sie sich auch in den Niederlanden zu Herzen. Der Antisemitismusbeauftragte Verdoner empfiehlt eine dreistufige Strategie.
Jüdisches Leben sichtbarer machen
Zum einen müsste jüdisches Leben sichtbarer werden, um die Angst davor zu nehmen. Dazu gehöre, jüdische Bräuche besser zu vermitteln. Zweitens müsse entschieden gegen Antisemitismus vorgegangen werden, etwa in Fußballstadien. Und drittens brauche es neue Angebote im Unterricht. Etwa über digitale Formate, aber auch direkte Nähe.
Verdoner stellt sich etwa eine Datenbank für Schulen vor, über die sie Gedenkorte in ihrer Nähe finden. "Damit die Menschen sehen: All das ist auch in meiner Stadt, in meinem Dorf geschehen." Das helfe zu verstehen und sei wirksam gegen Verschwörungstheorien.
Ein Weg, den sie auch im Anne-Frank-Haus gehen. Dort wird mit neuen Lehrmethoden experimentiert, Anne Franks Tagebuch gibt es mittlerweile etwa auf Instagram. Am wichtigsten bleibe aber ein persönlicher Besuch vor Ort, so das Museumsteam. Wenn Schulklassen die Treppen des Hinterhauses hinaufsteigen und durch die verborgene Tür in das Versteck treten, wo sich acht jüdische Schicksale abgespielt haben - dann rücke das bei vielen Besuchern ihr Geschichtsbild gerade.
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