EU-Wahlrechtsreform Comeback der Spitzenkandidaten?
Das EU-Parlament will die Europawahlen fairer und geschlechtergerechter machen und mehr Bürgermitbestimmung ermöglichen. Dazu bräuchte es eine Wahlrechtsreform - und bei der reden die Mitgliedsstaaten maßgeblich mit.
Das deutsche Wort "Spitzenkandidat" ist seit acht Jahren auch bei den europäischen Nachbarn wohlbekannt. Es steht für einen spektakulären Erfolg und für eine schmerzliche Niederlage des EU-Parlaments: Nach der Europawahl 2014 schafften es die Abgeordneten nämlich, den Spitzenkandidaten der stärksten Parteienfamilie in Europas mächtigstes Amt zu bugsieren - Jean-Claude Juncker wurde EU-Kommissionschef.
Nach der Europawahl 2019 glückte das nicht: Der Widerstand der Staats- und Regierungschefs gegen den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber war zu groß. Sie machten stattdessen Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin - und ignorierten damit die Forderung der Parlamentsmehrheit, nur einen Politiker an die Spitze der Behörde zu setzen, der vorher als Spitzenkandidat bei der Wahl angetreten war. Das will sich das EU-Parlament nicht länger bieten lassen.
Die pro-europäischen Fraktionen möchten das Spitzenkandidatenprinzip mit dem stärksten Argument wieder ins Spiel bringen, das die Demokratie zu bieten hat - mit Volkes Stimme. Künftig sollen Bürgerinnen und Bürger direkt darüber abstimmen, wer die Top-Jobs der EU besetzt. An einem solchen Votum kämen die Staats- und Regierungschefs wohl kaum vorbei.
Europaweiter Wahlkreis?
Die erste Direktwahl zum EU-Parlament liegt schon fast 45 Jahre zurück - aber eine echte Europa-Wahl ist die Abstimmung bis heute nicht. Stattdessen schicken Bürgerinnen und Bürger Vertreterinnen und Vertreter ihres jeweiligen Landes ins EU-Parlament, europaweite Kandidatenlisten gibt es nicht.
So traten 2019 unter anderem Manfred Weber, Frans Timmermans und Margrethe Vestager als Spitzenkandidaten der Christ- und Sozialdemokraten sowie der Liberalen für ganz Europa an. Gewählt werden konnten sie aber nur in ihren jeweiligen Heimatländern: Deutschland, den Niederlanden und Dänemark.
Das soll sich ändern: Das EU-Parlament will einen europaweiten Wahlkreis schaffen. Die Wählerinnen und Wähler würden also nicht nur die jeweilige nationale Partei ankreuzen, sie bekämen eine zweite Stimme für eine europaweite Liste. Darüber würden sie 28 Mandate vergeben zusätzlich zu den 705 Sitzen des EU-Parlaments, die wie bisher besetzt werden sollen. Zum Kommissionspräsidenten würde dann der Spitzenkandidat der Partei gewählt, die im europaweiten Wahlkreis die meisten Stimmen bekommt.
Mehr Frauen nach Straßburg und Brüssel
Das EU-Parlament verlangt außerdem, die Wahllisten künftig geschlechterparitätisch zu besetzen. Das könnte durch eine Quote geschehen - oder indem Listen im Reißverschlussverfahren besetzt werden: Frauen und Männer abwechselnd. Das Ziel: Frauen sollen künftig die Hälfte der Europaabgeordneten stellen. Derzeit sind 39 Prozent der Europaabgeordneten weiblich. In einigen Mitgliedsstaaten wie Rumänien, Slowakei oder Griechenland sind Frauen stark unterrepräsentiert. Zypern stellt nur männliche Europaabgeordnete.
Die geplante Wahlrechtsreform sieht außerdem eine 3,5-Prozent-Hürde für Mitgliedsstaaten vor, die aufgrund ihrer Größe und Bevölkerungszahl mehr als 60 Sitze im EU-Parlament beanspruchen. Faktisch gilt das nur Deutschland, weil in Frankreich und Italien schon Sperrklauseln gelten. Ausnahmen soll es nur für Parteien geben, die in sieben EU-Staaten unter dem gleichen Namen antreten und über eine Million Stimmen erreichen. Das fordern SPD und CDU, um einer Zersplitterung des EU-Parlaments entgegen zu wirken, das schon jetzt 200 Parteien umfasst.
Kleinere Parteien fürchten dagegen um ihre Wahlchancen. Das Wahlalter soll gemäß der Wahlrechtsreform möglichst auf 16 Jahre sinken. Künftig sollen Europawahlen in allen EU-Staaten gleichzeitig stattfinden und zwar jeweils am 9. Mai, der dann EU-weit ein Feiertag werden könnte.
Größte Hürde: Regierungen müssen zustimmen
Die Hoffnung der Reformbefürworter: Eine echte Europa-Wahl könnte gesamteuropäische Debatten befördern - über Themen, die alle Menschen auf dem Kontinent betreffen: soziale Standards, Klimaschutz, europäische Steuergerechtigkeit. Dafür müssten Kandidatinnen und Kandidaten dann auch einen Wahlkampf machen, der das Publikum von Schweden bis Kroatien, von Portugal bis Polen gleichermaßen anspricht.
Ob das so kommt und ob die Wählerinnen und Wähler schon bei der nächsten Europawahl 2024 über transnationale Listen abstimmen können, ist allerdings völlig offen. Denn die Mitgliedsstaaten müssen dem Vorschlag zustimmen und können ihn im weiteren Verfahren verändern. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag Zustimmung signalisiert. Aber einige EU-Staats- und Regierungschefs wollen sich die Entscheidung über Europas Führungspersonal nicht aus der Hand nehmen lassen.
Die Reformbefürworter im Parlament hoffen auf Rückenwind durch die gerade zu Ende gehende Konferenz zur Zukunft Europas: Dabei haben Bürgerinnen und Bürger Vorschläge zum europäischen Wahlrecht gemacht, die noch über die Reformpläne des EU-Parlaments hinausgehen.