20 Jahre EU-Osterweiterung Als Europa sich an sich selbst begeisterte
Die Erweiterung der EU um acht Staaten vor allem aus dem Osten Europas wurde vor 20 Jahren begeistert gefeiert. Wirtschaftlich eine Erfolgsgeschichte - aber politisch auch ein Prozess der Ernüchterung.
Am Morgen des 1. Mai 2004 macht in Litauen ein Säugling Schlagzeilen. Bilder von ihm sind in den Nachrichtensendungen des Fernsehens zu sehen. Es ist ein Junge, wenige Minuten nach Mitternacht geboren. Der erste Litauer, der als Bürger der Europäischen Union zur Welt gekommen ist.
Für seine Landsleute ist das ein historischer Einschnitt. Litauen hatte ja nicht nur zum Ostblock gehört, sondern war, wie Estland und Lettland auch, Sowjetrepublik gewesen.
15 Jahre nach dem Fall der Mauer kommt es zur Wiedervereinigung Europas. In Warschau und Prag wird der EU-Beitritt mit Feuerwerken gefeiert. An der Grenze zwischen Österreich und Ungarn schneidet der ungarische Regierungschef Peter Medgyessy einen Stacheldraht durch. Es ist einer der letzten Reste des Eisernen Vorhangs.
15 Jahre zuvor hatte sein Land als erstes die Grenzen geöffnet, für die DDR-Flüchtlinge. "Niemals mehr darf solch eine Grenze in Europa entstehen", fordert Medgyessy, ein ehemaliger Reformkommunist, am Tag des EU-Beitritts. Dass sein Nachfolger 20 Jahre später den russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Freund nennen würde war damals nicht vorstellbar.
Erinnerung an den Freiheitskampf der Osteuropäer
Die Geschichte der Europäischen Union ist eine Geschichte der Erweiterung. Aber nie kamen so viele Neumitglieder dazu wie 2004: acht osteuropäische Länder, dazu Malta und der geteilte Inselstaat Zypern.
Dass der Westen die Erweiterung nicht als einen Akt eigener Großzügigkeit missverstehen sollte, empfahl Polens Präsident Alexander Kwasniewski. "Wir haben hart dafür gearbeitet", rief er seinen Landsleuten wenige Minuten vor Mitternacht zu. "Wir sollten uns dafür selbst beglückwünschen, unsere Unabhängigkeit und Souveränität mit eigenen Händen wiedererlangt zu haben."
Einige Tage danach ist in Zittau im Dreiländereck von Deutschland, Polen und Tschechien die Überwindung der europäischen Teilung unter dem Brennglas zu beobachten. Bundeskanzler Gerhard Schröder geht zusammen mit seinen Amtskollegen aus Warschau und Prag, Vladimir Spidla und Leszek Miller, über die beiden Brücken, um zuerst von Polen nach Tschechien und dann von Tschechien nach Deutschland zu kommen, ganz ohne Grenzkontrollen.
"Wer hätte das vor 60 Jahren gedacht", sinniert Schröder, "dass es einen Tag geben könnte wie diesen - wo Europa vereint ist und wir alle die Chance haben, Europa zu einem Ort dauerhaften Friedens zu machen?" Dass derselbe Schröder 20 Jahre später an der Freundschaft zu Putin festhalten würde, auch nach dem Einmarsch in die Ukraine? Unvorstellbar.
Ein Tag der Zuversicht: 2004 feierten Schröder, Spidla und Miller die Erweiterung der EU in Zittau.
Vorfreude und Ängste
Im Mai 2004 herrscht Feststimmung in der EU, aber es gibt auch Sorgen. Das deutsche Handwerk sieht sich durch polnische Klempner bedroht, die Rede ist auch von Billiglöhnern, die den Arbeitsmarkt aus den Fugen bringen könnten. Die Südeuropäer fürchten, dass die lieb gewonnenen Fördergelder aus den Brüsseler Gemeinschaftstöpfen künftig eher in Richtung Osten abfließen.
Einige Sorgen bewahrheiten sich. Durch die Kohäsionspolitik, mit der Brüssel die Entwicklung schwächerer Regionen in Europa fördert, gingen in den vergangenen zwei Jahrzehnten vermehrt Mittel von West- nach Osteuropa, während der Geldfluss in den Süden abnahm. Trotzdem werten Ökonomen die Osterweiterung heute als eine Erfolgsgeschichte für beide Seiten.
Die Neuen konnten ihren Außenhandel seit dem EU-Beitritt mehr als verdreifachen - dank Integration in den Binnenmarkt. Allein in Polen hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Kopf seit 2004 verdoppelt.
Und Slowenien, Musterland der wirtschaftlichen Integration, erreichte 2022 ein BIP pro Kopf, dass fast 80 Prozent des EU-Durchschnitts ausmachte. Danach folgen Estland, Tschechien, Litauen, Lettland und die Slowakei. Geholfen hat das alles aber auch den vielen westeuropäischen Unternehmen, die die neuen Märkte im Osten erobern konnten.
Mehr als nur ein Geldautomat?
Zu den Erfolgen der Osterweiterung gehört auch, dass viele der neuen Länder ihr demokratisches, auf europäischen Rechtstaatsprinzipien fußendes Regierungssystem festigen und weiterentwickeln konnten. Zum ganzen Bild gehört aber, dass ausgerechnet die beiden Länder, die am meisten von den EU-Förderprogrammen profitierten, die größten Probleme mit dem demokratischen Rechtsstaat hatten.
Für Warschau und Budapest scheine Brüssel eine Art Bankautomat zu sein, der Spruch kursierte lange im Europäischen Parlament - ein Automat, aus dem man Geld zieht, ohne sich um die Regeln der Bank zu kümmern.
Polen war in den Jahren der PiS-Herrschaft unübersehbar auf einen autoritären Kurs abgedriftet. Seit der Abwahl der Partei von Jaroslaw Kaczynski im vergangenen Jahr hat Warschau sich mit dem entschiedenen Pro-Europäer Donald Tusk an der Spitze als verlässlicher Partner im Kreis der Staats- und Regierungschefs zurückgemeldet. Eine Entwicklung zum Autoritären kann also auch wieder rückgängig gemacht werden, so wird das von vielen in Brüssel bewertet.
In Ungarn sieht das anders aus. Premier Viktor Orban kann sich auch nach der jüngsten Wahl auf die breite Mehrheit seiner Landsleute verlassen, obwohl er Opposition, freie Journalisten und Juristen drangsaliert. Und dafür sorgt, dass Fördergelder aus Brüssel vorzugsweise an die eigenen Leute gehen.
Was von Ungarns Begeisterung blieb
Noch einmal zurück in den Mai des Jahres 2004. Im Berlaymont hat Péter Balás gerade sein neues Büro bezogen, er ist der erste ungarische EU-Kommissar. Wie alle zehn neuen Kommissare ist er ab sofort voll stimmberechtigt, auch, wenn er noch kein eigenes Ressort hat, das kommt später. Balás ist gelernter Diplomat, er drückt sich vorsichtig aus, gerät trotzdem ins Schwärmen. "Dass wir die gleichen Rechte jetzt haben, als ungarische Staatsbürger, das ist unschätzbar wichtig" sagt er im Gespräch mit dem ARD-Studio Brüssel. "Mit Personalausweis über Grenzen reisen, eventuell eine Arbeit in einem anderen EU-Land aufnehmen, Studien machen, und so weiter", zählt Balás auf und macht in dem Gespräch den Eindruck, dass das alles für ihn nach wie vor ein Wunder ist. "Die gleiche Behandlung der ungarischen Staatsbürger, das ist wichtig!“"
Vorher war Balas ungarischer Botschafter bei der EU gewesen, seine Residenz war ein offenes Haus für kritische Geister, es glich einem liberalen Salon. Einladungen waren unter Brüssels Journalisten hoch begehrt. Dass Ungarn zwanzig Jahre später zum Paria im Kreis von Europas Demokratien werden könnte? Unvorstellbar.