Regierungskrise Italien nach Draghi-Rücktritt vor Neuwahlen
Die Unterstützer von Italiens zurückgetretenem Regierungschef Draghi machen den Parteien, die ihm das Vertrauen entzogen, schwere Vorwürfe. Im Oktober könnte es Neuwahlen geben - mit guten Chancen für ein rechtes Bündnis.
Für einen Moment war beim sonst so beherrschten Mario Draghi ein Schimmer der Rührung in den Augen zu erkennen: Als der Noch-Regierungschef in der Abgeordnetenkammer am Vormittag zu seiner Erklärung ansetzte - und die Abgeordneten auf der linken Seite des Parlaments ihn mit langem, stehendem Applaus feierten.
Das Herz des Zentralbänkers
Draghi lächelte und kommentierte selbstironisch seine emotionale Reaktion: "Auch das Herz von Zentralbänkern wird ab und zu genutzt."
Die eigentliche Erklärung Draghis in der Abgeordnetenkammer dauerte nur 15 Sekunden: "Vielen Dank für die gemeinsame Arbeit in dieser Zeit. Angesichts des Votums des Senats der Republik gestern Abend bitte ich darum, die Sitzung zu unterbrechen, weil ich zum Staatspräsidenten fahren und ihm meinen Entschluss mitteilen werde."
Gestern Abend hatte Draghi im Senat eine klare politische Niederlage erlitten. Nur circa ein Drittel der Senatorinnen und Senatoren votierten für ein Weitermachen des Ministerpräsidenten. Das reichte zwar für eine einfache Mehrheit, weil sich drei bisherige Regierungsparteien nicht an der Abstimmung beteiligten.
Für ein Weiterregieren Draghis aber war dies deutlich zu wenig. Die Fünf-Sterne-Bewegung, die rechte Lega Matteo Salvinis und Silvio Berlusconis Forza Italia hatten Draghi faktisch die Gefolgschaft aufgekündigt und damit die Koalition der nationalen Einheit platzen lassen.
"Der am meisten respektierte Italiener der Welt"
Draghi-Unterstützer wie der Chef des sozialdemokratischen PD, Enrico Letta, oder Außenminister Luigi Di Maio sprachen hinterher von einem traurigen beziehungsweise schwarzen Tag für Italien. Ihr Vorwurf: Aus parteipolitischer Profilierung und wahltaktischen Überlegungen sei Italien in eine unverantwortliche Krise gestürzt worden.
Auch der ehemalige Minister für wirtschaftliche Entwicklung, der liberale Carlo Calenda, macht den Parteien, die Draghi das Vertrauen aufgekündigt haben, schwere Vorwürfe. "Eine Herde von Lumpen, von unverantwortlichen Populisten von rechts und links - Forza Italia, Lega, Fünf-Sterne-Bewegung , haben in einer beispiellosen internationalen Krise den in der Welt am meisten respektierten Italiener nach Hause geschickt."
"Säule der europäischen Stabilität wird fehlen"
Gennaro Migliore von der Partei Italia Viva, die ebenfalls zu den Draghi-Unterstützern gehört, sieht auch international negative Folgen durch den Sturz Draghis: "Es ist eine Regierungskrise in Italien, aber nicht nur das. In Russland werden jetzt Champagnerflaschen entkorkt und der Wodka geöffnet, und auf der anderen Seite gibt es international diejenigen, die zurecht besorgt sind, dass eine Säule der europäischen Stabilität wie Mario Draghi jetzt fehlen wird."
Neuwahlen Anfang Oktober wahrscheinlich
Die Entscheidung, wie es in der Regierungskrise in Rom weitergeht, liegt nun bei Staatspräsident Sergio Mattarella. Es wird damit gerechnet, dass er Neuwahlen ausruft, nach den pflichtgemäßen Beratungen mit der Senatspräsidentin und dem Präsidenten der Abgeordnetenkammer über eine Auflösung des Parlaments. Als mögliche Termine für Neuwahlen gelten der 2. oder 9. Oktober. Bis dahin könnten Draghi und seine Regierung geschäftsführend im Amt bleiben.
Laut Umfragen gibt es bei Neuwahlen große Siegchancen für ein Bündnis der Rechtsparteien Brüder Italiens, Lega und Forza Italia. Die derzeit beliebteste Politikerin in Italien nach Draghi ist Giorgia Meloni, die Chefin der postfaschistischen Brüder Italiens. Die 45-Jährige erklärte nach Draghis Scheitern im Senat, sie freue sich auf Neuwahlen.
Mattarella bestellt Parlamentspräsidenten ein
Für Neuwahlen spricht auch, dass Mattarella nach Draghis Rücktritt die beiden Parlamentspräsidenten zu seinem Amtssitz bestellte. Senatspräsidentin Maria Elisabetta Casellati und der Präsident der Abgeordnetenkammer, Roberto Fico, werden am Nachmittag erwartet. Beobachter vermuten, dass Mattarella die beiden Parlamentskammern auflösen und damit eine vorgezogene Wahl einleiten will.