Menschen in der Metro von Charkiw
Reportage

Menschen in Charkiws Metro Die Angst vor dem Leben da oben

Stand: 18.05.2022 10:23 Uhr

Wochenlang haben unzählige Menschen in Charkiws Metrostationen Schutz gesucht. Nach dem Rückzug der Russen soll die Bahn wieder fahren. Doch manche haben Angst vor dem, was sie draußen erwarten könnte.

Matratzen mit bunten Wolldecken, Stockbetten mit Stofftieren oder auch Zelte stehen auf dem Bahnsteig der Metrostation "Helden der Arbeit". Wo sonst Züge im Minutentakt durchdonnern, haben Hunderte Menschen ihr Lager aufgeschlagen - begleitet von Katzen, Hunden und Hamstern.

Durch meterdicke Mauern vor russischen Raketen geschützt, schauen viele auf ihr Handy, andere lesen, plaudern oder schlafen. Seit sich die Lage beruhigt hat, kehren mehrere tausend Menschen laut Behörden täglich nach Charkiw zurück.

Metro Station Heroiv Pratsi in Charkiv.

In der U-Bahn-Station "Helden der Arbeit" sollen bald wieder Züge fahren. Noch leben hier Hunderte Menschen.

Keine Arbeit, kein Einkommen, keine Perspektive

Die Metro soll bald wieder fahren und die Menschen schrittweise nach Hause oder in Unterkünfte zurück. Irina hat davor offensichtlich Angst:

Man schickt mich nach Hause. Aber wir haben kein Gas, kein Licht und sie sagen, wessen Haus heil ist, soll nach Hause gehen. Aber dort wird geschossen. Ich habe nicht darum gebeten, dass man mich aus dem Haus vertreibt.

Im dunkelgrünen Jogginganzug sitzt die 43-Jährige auf einer schmalen Bank. Die fast magere Marktverkäuferin hat ihre Arbeit verloren und kein Einkommen. Dafür tiefe Ringe unter den Augen: "Wenn der Krieg hier zu Ende ist, warum wird dann geschossen? Wie kann man die Leute hier wegbringen? Können Sie sich das vorstellen?", fragt sie unter Tränen.

Niemand werde aus der Metro vertrieben, betont hingegen der Bürgermeister von Charkiw, Igor Terechow. Das einzige worum man die Menschen gebeten habe, sei, die Waggons zu verlassen und auf die Plattform zu gehen. "Wenn sie sich in der Station wohlfühlen, können sie bleiben. Wenn nicht, und sie keine andere Bleibe haben, dann stellen wir Unterkünfte zu Verfügung." Mit Unterkunft meine er Wohnheime, "denn wir haben zurzeit keinen Wohnraum, weil viele Häuser zerstört sind". "Tolerant und ruhig" wolle man die Situation lösen.

"Wir werden das weiter aushalten"

Doch auch Tanja und Nina treibt der Gedanke um, dass sie den Schutzraum der Metro irgendwann verlassen sollen. Sie sind in der Station "Studentska" untergekommen. Man habe versprochen, dass alles gut werde und sie hier bis zum Ende des Krieges bleiben könnten, sagt Nina. "Wir haben das ausgehalten und wollen das auch weiter tun. All das Unangenehme, die Kälte hier. Bisher haben sie uns gut versorgt, aber von mir aus können sie uns weniger Essen geben, wenn sie uns nur hierlassen."

Zwei Monate sei Nina nicht oben gewesen, sagt die 64-Jährige Tanja im lilafarbenen Fleece und streicht ihr tröstend über den Arm. Die ist leichenblass. "Wenn man die Raketen hört, dann weiß niemand, wo sie hinfliegen, auf welcher Seite", sagt Nina.

Die Freunde Danja und Danja in der Station Heroiv Pratsi.

Auch Kinder wie Danja und Danja kamen in der Station "Helden der Arbeit" unter.

Tränen und Beruhigungstabletten

"Wir gehen raus", erzählt der elfjährige Danja, und seine Großmutter Dana Mihailovna packt bereits. Die 79-jährige agile Frau in Jeans möchte Zuversicht vermitteln: "Ich bin ein Kind des Krieges, und ich möchte nicht, dass die Kinder nun auch noch verinnerlichen, was das ist: Krieg. Es soll so schnell wie möglich Frieden geben." Ihr Enkel lümmelt unterdessen auf einer gemütlich weichen Matratze mit grüner Wolldecke, zusammen mit den neun- und elfjährigen Brüdern Sascha und Danja.

Die verzweifelte Irina ringt unterdessen weiter um Fassung. "Ich kann nicht mehr", weint sie. Eine Frau drückt ihr routiniert eine Beruhigungstablette in den Mund. "Nein ich möchte nicht", sagt sie zunächst - und nimmt sie dann doch.  

Verzweifelte Erwachsene hat Sascha in der Metro wohl häufiger erlebt. Der Neunjährige formuliert es so: "Krieg macht Angst. Das ist wenn Menschen sterben. Aber es wird Frieden geben."   

Andrea Beer, Andrea Beer, ARD Moskau, zzt. Charkiw, 18.05.2022 10:23 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 18. Mai 2022 um 05:19 Uhr.