EU-Außengrenze Namenloser Tod in Bulgarien
An der türkisch-bulgarischen Grenze endet der Versuch von Migranten, in die EU zu kommen, oft in tödlicher Erschöpfung. Die Behörden begraben die Leichen schnell - ohne Identifizierung. Für die Angehörigen ist das ein weiteres Trauma.
Das Porträt hängt zwischen den Fenstern im ansonsten schmucklosen Wohnzimmer. Wenn Hussam Adin Bibars es von der Wand nimmt, um es zu zeigen, wirkt es, als würde er eine Bürde tragen.
Der gut aussehende junge Mann mit den blauen Augen und dem akkurat gestutzten, schwarzen Bart auf dem Foto ist sein Sohn. Das letzte Lebenszeichen von ihm kam im Herbst. Majid hatte sich auf den Weg gemacht, um zu seiner Familie zu ziehen. Sein Vater war bereits im Jahr 2015 aus Syrien geflohen und lebt heute in Dänemark.
Um seinen Plan in die Tat umzusetzen, musste Majid über die berüchtigte Balkanroute, die in den vergangenen Jahren immer gefährlicher geworden ist. Die Außengrenzen werden strenger bewacht, Geflüchtete und ihre Schleuser wählen längere und gefährlichere Routen, um ein Aufeinandertreffen mit der Polizei zu vermeiden.
Geblieben sind nur Erinnerungen und ein Bild: Hussam Bibar mit dem Porträt seines verstorbenen Sohnes
Verloren im "Dreieck des Todes"
Der Weg führt an der türkisch-bulgarischen Grenze durch dichte, endlose Wälder. "Dreieck des Todes" nennen sie das Gebiet hier, weil dort besonders viele tote Körper gefunden wurden. Immer wieder verirren sich Flüchtlinge, sterben an Dehydrierung und Erschöpfung.
Oft sind es Mitarbeiter von NGOs wie Diana Dimova, die die Toten finden. Vergangenes Jahr hätten sie zehn bis zwölf Notrufe erreicht, erzählt sie, dieses Jahr habe sie schon nicht mehr zählen können, es seien aber auf jeden Fall mehr als 70 gewesen.
Wer zu schwach ist, wird zurückgelassen
Hussam Adin Bibars erfährt, dass auch Majid nicht genug zu trinken hat. Er wird immer schwächer, berichtet von Bauchkrämpfen und kann nicht mehr weiterlaufen. Sein Vater macht sich Sorgen, versucht, mit dem Schleuser in Kontakt zu kommen.
Der Schmuggler sagte, dass sich der Gesundheitszustand von Majid verschlechtert habe. Sie hätten ihn im Wald zurückgelassen. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass Majid ein Mensch ist und man ihn in so einem Zustand nicht einfach im Wald zurücklassen kann. Ich habe den Schmuggler gebeten, Majid an die nächstmögliche Behörde zu übergeben.
Verzweifelte Suche in Bulgarien
Als der Kontakt abbricht, macht Hussam sich auf eigene Faust auf die Suche. Er reist nach Bulgarien, klappert Krankenhäuser ab, schließlich auch Leichenhallen.
In der Gerichtsmedizin in Yambol, einer Stadt im Südosten des Landes, findet er eine erste Spur, die ihn zu seinem Sohn führen könnte. Ein Körper, der zu seiner Beschreibung passt, sei dort gewesen, erzählt man ihm.
Auf der Polizeistation zeigt man ihm schließlich Fotos, man habe den Leichnam auf einem Feld gefunden.
Was bleibt: eine Grabnummer
Hussam will seinen Sohn sehen und identifizieren, doch der Leichnam ist bereits weg. Die Polizei hat nur noch die Nummer eines Grabes für ihn. Für den Vater ist diese Nachricht kaum zu ertragen:
Ich wünschte, ich hätte wenigstens die Chance, Majid ein letztes Mal zu sehen, aber bis heute bin ich mir über seinen Tod absolut unsicher. Ich habe zwar Fotos von ihm gesehen und sein Telefon erhalten, aber ich habe ihn nicht mit eigenen Augen gesehen, so dass mein Verstand immer noch nicht glauben kann, dass die Person in diesem Grab mein Sohn ist.
Auf dem Friedhof von Elhovo türmen sich neben Gräbern mit Grabsteinen Sandhügel auf - unter ihnen sind namenlose Migranten anonym verscharrt.
Die Begründung der Staatsanwaltschaft
Bevor der Körper überhaupt identifiziert werden konnte, hatte der Staatsanwalt ihn bereits zur Beerdigung freigegeben. Nach nur vier Tagen. Milen Bozidarov, einer der zuständigen Staatsanwälte für die Region verweist im Interview mit der ARD auf hygienische Gründe.
Die Leichenhallen seien voll, jeder sei zur Eile angehalten. Wenn man davon ausgehen könne, die tote Person sei ein Migrant und die Angehörigen weit weg, dann gebe es keine sinnvollen Gründe, den Körper weiterhin aufzubewahren.
Doch Majids Vater wollte seinen Sohn finden, die weite Anreise aus Dänemark hinderte ihn nicht an der Suche. 22 Tage nach seinem Tod war er in Bulgarien vor Ort. Da war es jedoch längst zu spät.
Das einzige, was er noch besuchen konnte, war ein Erdhaufen auf einem Friedhof inmitten anderer namenloser Gräber.
Luftaufnahmen zeigen das Ausmaß der frischen Grabstätten für verstorbene Migranten.
"Man will keine Aufmerksamkeit"
Scharfe Kritik an dieser Praxis des schnellen Begrabens kommt von Anwalt Dragomir Oshavkov aus Burgas. Eigentlich dürfe es keinen Unterschied machen, ob der Tote ein Bulgare oder ein Migrant sei.
Die Behörden hätten bei Migranten jedoch kein Interesse daran, die wahre Todesursache und die Identität herauszufinden, erzählt er. Man wolle den Prozess einfach schnell und möglichst bequem abschließen.
Ein Verhalten, das für die EU unwürdig ist. So sieht es Erik Marquardt, der für die Grünen im Europaparlament sitzt und die Migrationspolitik der letzten Jahre genau verfolgt.
Wenn man nach wenigen Tagen, ohne die Todesursache genau zu ermitteln, Menschen einfach verscharrt und sich nicht um die Angehörigen kümmert, dann will man offenbar nicht, dass die Aufmerksamkeit auf diese Fälle kommt.
Marquardt bringt die Einführung einer EU-Datenbank ins Spiel und eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bei der Auffindung von Verwandten mitzuwirken.
Ein Kind ohne Vater
Für viele Menschen ist der Weg über die Balkanroute inzwischen tödlich - und endet in einem namenlosen Grab. Auch für Majid.
Wenige Tage nach seinem Tod kommt Majids Tochter zur Welt. Hussam, der Großvater, zeigt ein Video, auf dem die Kleine unter einer weiß-blauen Samtmütze hervor blinzelt. Sie wird bei ihrer Mutter aufwachsen.
Wo und wie ihr Vater genau gestorben ist, wird sie niemals erfahren.