Russische Soldaten helfen bei Evakuierungen in Stepanakert.
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Konflikt mit Aserbaidschan Die Tage Bergkarabachs sind gezählt

Stand: 20.09.2023 20:23 Uhr

Ein Treffen der Führung von Bergkarabach mit Vertretern Aserbaidschans könnte heute das Schicksal der Armenier dort besiegeln. Ohne Hilfe von außen bleibt ihnen nur Assimilation oder Flucht. Es entsteht aber auch eine Chance.

Eine Analyse von Silvia Stöber

Der 21. September ist ein historischer Tag für die Armenier im Südkaukasus. An diesem Datum vor 32 Jahren erklärte die damalige Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit. Was aber folgte, waren Jahre geprägt vom Krieg gegen den Nachbarn Aserbaidschan um das Gebiet Bergkarabach, das auf dessen Territorium liegt, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. In diesem Jahr könnte der 21. September ein Ende markieren: das der selbst ernannten Republik Bergkarabach.

Geplant ist ein Treffen der armenischen Führung der Enklave mit Repräsentanten aus Baku. Sie soll der Entwaffnung der Selbstverteidigungskräfte und ihrer eigenen Auflösung als gewählte Vertretung der Armenier zustimmen. Bislang verweigerten sie diese Selbstaufgabe und die Assimilation in den aserbaidschanischen Staat.

Tausende auf der Flucht

Doch nun sind sie handlungsunfähig. Aserbaidschanische Streitkräfte dringen von allen Seiten vor, sie haben bereits strategisch wichtige Positionen eingenommen und blockieren wichtige Straßen. Tausende sind auf der Flucht, nachdem sie bereits in den vergangenen neun Monaten ohne wichtige Versorgungsgüter auskommen mussten und zunehmend unter Mangelernährung litten.

Die Führung um Präsident Samwel Scharamanjan hatte nach einer Sicherheitsratssitzung am Morgen erklärt, ohne internationale Unterstützung sehe man sich zu Maßnahmen gezwungen, die die physische Sicherheit der Bevölkerung gewährleisteten. In dieser ausweglosen Situation heißt dies, die armenische Bevölkerung vor Gräueltaten und gewaltsamer Vertreibung durch die aserbaidschanischen Truppen zu bewahren - mithin eine geordnete Flucht nach Armenien zu ermöglichen.

Ungewisses Schicksal

Scharamanjan war erst kürzlich vom Parlament in Stepanakert zum Präsidenten gewählt worden. Er hatte sogleich seine Bereitschaft gezeigt, auf Forderungen Aserbaidschans einzugehen. Das hatte sein Vorgänger noch verweigert. Im Gegenzug für seine Zustimmung zur Selbstauflösung Bergkarabachs könnte Scharamanjan eine Anklage als Kriegsverbrecher vor einem aserbaidschanischen Gericht erspart bleiben, die den meisten Männern aus Bergkarabach bei Gefangennahme droht.

Scharamanjan könnte aber auch die Rache radikaler Armenier drohen, die Bergkarabach nicht aufgeben wollen und aus den Wäldern heraus gegen die aserbaidschanischen Truppen kämpfen könnten.

Russlands Kalkül

Ungewiss ist auch die Zukunft der russischen Friedenstruppen in Bergkarabach. Die offiziell 2.000 Soldaten kamen Ende 2020 im Rahmen einer von Russland vermittelten Waffenstillstandsvereinbarung für fünf Jahre nach Aserbaidschan, um die Armenier in Bergkarabach zu schützen. Doch ließen sie die aserbaidschanischen Streitkräfte meist tatenlos gewähren und helfen nun aktiv bei der Evakuierung der Armenier aus Bergkarabach.

Dieses Vorgehen spricht für die These, dass Russland seit langem bereit war, den Armeniern in Bergkarabach nur einen Autonomiestatus zu gewähren, aber keine Unabhängigkeit für einen nur von Armeniern bewohnten Staat Bergkarabach. Außenminister Sergej Lawrow soll diesen schon vor Jahren vorgeschlagen haben, als sich abzeichnete, dass Aserbaidschan dank Waffenkäufen aus Israel und der Türkei an militärischer Stärke gewann. Bereits 2016 demonstrierte Aserbaidschan in einem Militäreinsatz mit Drohnen, dass Bergkarabach keine uneinnehmbare Festung mehr war, wie die Armenier, aber auch viele Experten damals noch glaubten.

Fehlkalkulation der Armenier

Doch zum Ärger Russlands verweigerte nicht nur die Führung Bergkarabachs, sondern auch die Regierung in Jerewan Kompromisse, die zu einer langfristigen Stabilisierung der Lage hätten führen sollten.

Nikol Paschinjan, der zwei Jahre nach der Niederlage gegen Aserbaidschan einen friedlichen Machtwechsel in Armenien herbeigeführt hatte, wollte mit einer kompromisslosen Haltung Stärke zeigen. Dass er zugleich Kontakt zur russischen Regierung suchte, half Armenien wenig. In den Krieg 2020 griff Russland erst maßgeblich ein, als die aserbaidschanischen Streitkräfte davor standen, die armenische Bevölkerung aus ganz Bergkarabach zu vertreiben.

Armeniens Überleben sichern

Bereits da war klar, dass Russlands wirtschaftliche und strategische Interessen an Aserbaidschan größer sind als an den Armeniern, die militärisch erheblich geschwächt aus dem Krieg 2020 hervorgingen - und zwar so sehr, dass sie nicht nur in Bergkarabach kaum noch wehrfähig waren. Auch den Angriffen Aserbaidschans auf das eigene Territorium seit dem Frühjahr 2021 konnte Armenien wenig entgegensetzen - und wurden auch da von Russland allein gelassen, trotz Bündnispflichten.

Paschinjan muss damals bewusst geworden sein, dass Bergkarabach für die Armenier auf Dauer nicht zu retten und dass auch das Überleben Armeniens selbst gefährdet ist. Er zog 2022 die Konsequenz: Um die territoriale Integrität Armeniens in einem Friedensabkommen zu sichern, erklärte er sich zur Anerkennung der Grenzen Aserbaidschans bereit, inklusive Bergkarabachs.

Silvia Stöber, tagesschau.de, mit Hintergründen zu den Militärangriffen Aserbaidschans auf die Region Bergkarabach

tagesschau24, 20.09.2023 12:00 Uhr

Entscheidende Tage

Paschinjans Regierung überstand die wütenden Proteste der Opposition um die Bergkarabach-Armenier, weil diese noch weniger Vertrauen genießt und weil viele Armenier der ewigen Anspannungen und Kriegsgefahren müde sind.

Die kommenden Tage sind entscheidend für die Stabilität Armeniens. Es wird schwer genug, die Zehntausenden Armenier aus Bergkarabach aufzunehmen und zu versorgen. Bleiben jedoch solche Gräueltaten wie im Krieg 2020 aus, werden Gegner Paschinjans nur Teile der Bevölkerung zum Protest hinter sich scharen können.

Und schon jetzt richtet sich große Wut gegen Russland. Zwar würde kaum noch jemand für Paschinjan auf die Straße gehen. Aber ein Sturzversuch, wie ihn russische Propaganda herbeizureden versucht, würde keine überragende Unterstützung finden, sind sich junge Leute in Jerewan sicher. Gesprochen wird jedoch über die Gefahr, dass Einzelne nach dem Leben Paschinjans trachten könnten. Einen im kollektiven Gedächtnis verwurzelten Präzedenzfall gab es 1999, als mehrere Regierungsmitglieder erschossen wurden.

Gerechter Frieden

Es könnte sein, dass Aserbaidschan an einem geordneten Abzug der Armenier aus Bergkarabach interessiert ist, um Bilder von Gräueltaten gegen die armenische Zivilbevölkerung zu verhindern. Denn der Ruf nach Sanktionen gegen Präsident Ilham Alijew ist inzwischen durchaus hörbar. Hochrangige Regierungsvertreter aus der EU, den USA, Kanada und anderen Staaten versuchen, ihm ins Gewissen zu reden und ihm klar zu machen, welche Folgen eine weitere Eskalation nach sich ziehen könnte.

Es ist jedoch fraglich, ob Alijew jene schmerzhafte Lehre beherzigt, die die Armenier in Bergkarabach für sich ziehen mussten: dass das Ausruhen auf dem militärischen Sieg Anfang der 1990er-Jahre und das Verweigern von Kompromissen keinen Frieden brachte. Sie führten ein Leben im permanenten Kriegszustand mit den Hausruinen der aserbaidschanischen Nachbarn vor Augen. Armenische Experten warnen nun Alijew: Nur ein für alle gerechter Frieden werde Stabilität in die Region bringen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 20. September 2023 um 22:15 Uhr.