Nach Anschlag auf Reporter Werden die Niederlande zum Narco-Staat?
Der Anschlag auf den niederländischen Journalisten de Vries hat ganz Europa erschüttert. Der Fall zeigt ein grundsätzliches Problem: Die Regierung hat der organisierten Kriminalität wenig entgegenzusetzen.
Drogenkonflikte, die gewaltsam auf offener Straße ausgetragen werden, Mordversuche und Bedrohungen - für Vito Shukrula ist all das nicht besonders überraschend. Der Rotterdamer Anwalt vertritt seit Jahren Verdächtige aus dem Drogenmilieu. Und dort werde der Umgang immer rauer, so Shukrula. Er zählt auf, wie das Milieu versucht, Menschen einzuschüchtern.
"Ein abgeschlagener Kopf wurde vor einer Shishabar gefunden, ein Anwalt ermordet", erzählt Shukrula. "Manchmal habe ich das Gefühl, sie haben sich einige Anregungen aus Kolumbien geholt." Mit einer Mischung aus Einschüchterung und Bestechung gelinge es den Kartellen, immer mehr Menschen im Umfeld des Rotterdamer Hafens für ihre Zwecke einzuspannen. Dort kommen mit Abstand die meisten Drogen in Europa an, das Drehkreuz ist für die Behörden kaum lückenlos zu kontrollieren.
Eine Kultur des Wegschauens?
Und manchmal schaue man auch nicht allzu genau hin, vermutet Anwalt Shukrula - weil auch die staatlichen Strukturen teilweise längst von den Kriminellen unterwandert seien: "Mit dieser Menge an Kokain kommt viel Geld herein, und die Leute wollen schnell Geld verdienen. Und wenn jemand ein Psychopath ist mit 400, 500 Millionen zur Verfügung, und du kannst einen Killer beauftragen, dann untergräbt das das ganze Regierungssystem."
Wie beim aktuellen Anschlag auf den Kriminaljournalisten Peter R. de Vries: Ihn hatte Vito Shukrula sogar persönlich gewarnt, dass er auf einer Todesliste der Drogenmafia stehe. Nach den Schüssen von Amsterdam war in den Niederlanden schnell die Rede von einem Angriff auf die Pressefreiheit, dabei ist dieses Motiv nicht so eindeutig, denn de Vries ist außerdem Kronzeuge im größten Prozess in der Geschichte der Niederlande.
Im sogenannten Marengo-Prozess stehen Verdächtige vor Gericht, die jahrelang mit brutalsten Methoden Drogennetzwerke betrieben haben sollen. Eine mögliche Verbindung der mutmaßlichen Attentäter zu den Hauptverdächtigen haben die Behörden inzwischen bestätigt.
Regierung zeigt sich hilflos
Hat die Regierung wieder einmal die Möglichkeiten des organisierten Verbrechens unterschätzt? Das fragte der Sender RTL Nieuws nach dem Anschlag den zuständigen Justizminister Ferdinand Grapperhaus. Bei der Antwort rang er sichtbar mit den Worten: "Wissen Sie, das ist wirklich ein vielköpfiges Monster. Es wird immer gewalttätiger, immer gewissenloser. Und wir als Kabinett sagen, hier müssen wir nun wirklich etwas tun. Leute, das wird ein Kampf, der zehn Jahre dauert."
Das macht deutlich: Die Missstände sind so groß geworden, dass eine zügige Kontrolle unwahrscheinlich scheint - ein Problem auch für die Regierung von Premierminister Mark Rutte, derzeit nur geschäftsführend im Amt. Sie steht eigentlich für Stabilität, eine harte Hand und kompromissloses Durchgreifen.
Nationales Selbstverständnis in Frage gestellt
Doch ausgerechnet im Kampf gegen das organisierte Verbrechen wirkt sie überfordert. Das führt zu zunehmender Kritik an der Regierung. Die Pandemie, eine Regierungskrise, die Drogenkriminalität - alles kommt zusammen. Verdrängte Probleme würden nun durchbrechen, so sagt es der Politikexperte René Cuperus: "Ich glaube, Holland hat zu tun mit einer Vertrauenskrise, mit einem angeknacksten Selbstbild. Denn das Selbstbild von Holland war eigentlich: Wir sind eines der bestorganisierten Länder der Welt. Zusammen mit Deutschland."
Die niederländische Gesellschaft schlage derzeit hart auf dem Boden der Realität auf. Im Land verbreite sich die Auffassung, dass es so nicht weitergehen kann. Manche fragen sich allerdings auch, ob es zum Gegensteuern nicht schon zu spät ist.