Wie die EU plötzlich Erdogan umgarnt Europas neuer Liebling
Die Europäer brauchen Erdogan dringender denn je - schließlich ist das Flüchtlingsproblem ohne die Türkei nicht zu lösen. Bloß: Was bietet man ihm dafür? Mit dieser Frage befasst sich heute der EU-Gipfel in Brüssel.
Noch vor kurzem wirkte es, als würden sich die EU und die Türkei kaum noch eines Blickes würdigen. Doch auf einmal schauen sie sich wieder ganz tief in die Augen. Was unter anderem daran liegt, dass die Türkei die russischen Luftangriffe in Syrien äußerst befremdlich findet. Und natürlich daran, dass die EU das Land am Bosporus in der Flüchtlingskrise vielleicht mehr braucht als je zuvor.
"Die Türkei spielt eine Schlüsselrolle", sagt zum Beispiel Bundeskanzlerin Angela Merkel, "sie ist unser unmittelbarer Nachbar, sie ist Ausgangspunkt der irregulären Migration." Was die EU von ihrem Nachbarn will, ist klar: Flüchtlinge, auch solche aus Syrien, sollen möglichst in der Türkei bleiben - und gar nicht erst in die EU gelangen. Dafür allerdings wird Ankara Gegenleistungen verlangen. So ist es seit Jahren ein Traum vieler Türken, ohne Visum in die EU reisen zu dürfen. Das könnte eine der Forderungen sein. Oder: Würde die Türkei als sogenanntes sicheres Herkunftsland anerkannt, hätte die Erdogan-Regierung sich eine Art "Gütesiegel" der EU erworben.
Was zählt schon die Kurdenpolitk?
Tatsächlich bekundet EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, dass er "sehr entschlossen" sei, "die Türkei auf die Liste sicherer Länder zu setzen“. Und auch aus deutschen Regierungskreisen verlautete vor dem heutigen EU-Gipfel, dass es "Sinn machen könnte", der Türkei den begehrten Status einzuräumen.
Kommt es tatsächlich so, könnten Asylsuchende viel leichter abgeschoben werden. Nun haben aber Brüssel und Berlin bislang Ankara stets besonders laut für die Nichtachtung der Pressefreiheit oder den Umgang mit den Kurden gegeißelt. Jetzt adeln sie Staatschef Erdogan - kurz vor für ihn wichtigen Wahlen - mit Besuchen. Und drücken, was die Achtung der Menschenrechte in der Türkei angeht, womöglich bereitwilliger als je zuvor ein Auge zu.
"Ich glaube, dass wir als Europäische Union uns vor den Wahlen am 1. November etwas zurückhalten. Wir werden die Flüchtlingsproblematik nicht ohne die Türkei in den Griff bekommen", mahnt der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn - und das unter dem Eindruck des Anschlags vom vergangenen Wochenende, dem blutigsten überhaupt in der Geschichte der Türkei.
"Die politische Lösung fällt nicht vom Himmel"
Auch wenn es gilt, den Bürgerkrieg in Syrien einzudämmen, wird die EU das NATO-Land Türkei brauchen. "Die große politische Lösung wird nicht vom Himmel fallen“, sagt der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier.
Die EU widmet sich darum nun verstärkt dem Schutz ihrer Außengrenze. So ist ein gesamteuropäischer Küstenschutz im Gespräch. In Italien und Griechenland werden zudem neuartige Aufnahmezentren errichtet, in denen die Flüchtlinge registriert werden sollen - sogenannte Hotspots: Allerdings dürften diese deutlich später fertig werden als erhofft. In Griechenland können sie wohl erst zum Jahresende die Arbeit aufnehmen.
Umstritten ist derweil auch weiterhin die Verteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen EU-Länder. Auch wenn viele Regierungen von dem Thema immer noch nichts wissen wollen - Berlin und Brüssel werden es auch weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur Sprache bringen.