Corona-Krise Fahrradboom in Paris
Aus Angst vor einer Ansteckung steigen viele Pariser gerade nicht gerne in die Metro. Der Staat nutzt die Sorge und fördert eine andere, eigentlich längst bekannte Form der Mobilität: das Fahrradfahren. 60 Millionen Euro sind dafür vorgesehen.
Der Helm sitzt leicht schief, der Blick ist hoch konzentriert: Marie Christine Leudjeu fährt vorsichtig Schlangenlinien mit dem Fahrrad. Auf dem Betonboden kleine, bunte Plastikhütchen. "Schneller fahren", ruft ihr Trainer. "Treten, dann bremsen!"
Doch Leudjeu bleibt lieber ein bisschen langsamer, schließlich hat die 55-Jährige das Fahrradfahren gerade erst gelernt. "Ich mache das Schritt für Schritt", sagt sie, "und gebe nicht auf. Am Ende muss ich mit meinem kleinen Sohn die Hügel heraufkommen. Und der zweite Grund, warum ich hier bin, ist Corona. Morgens sind wahnsinnig viele Menschen unterwegs. Ich möchte lieber frische Luft atmen und all diese Probleme im Moment vermeiden. Es wird Zeit, dass ich nicht mehr Bahn fahre, sondern aufs Fahrrad umsteige."
Im Vergleich zum Vorjahr fuhren im Mai 30 Prozent mehr Franzosen Fahrrad.
30 Prozent mehr Fahrradfahrer
So viele Interessierte sind an diesem Morgen zum Fahrradzentrum am Bassin de la Villette im Nordosten von Paris gekommen. Der Kurs muss in drei Gruppen unterteilt werden. Schon der lange Streik Ende des vergangenen Jahres brachte viele Pariser zum Zweirad. Die Sorge um Corona lässt das Interesse weiter steigen.
Im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr fuhren Mitte Mai, direkt nach Ende der strengen Ausgangssperre, knapp 30 Prozent mehr Franzosen Fahrrad, sagt der Verband Vélo et territoires: "Dieser Anstieg betrifft alle Milieus: in der Stadt, am Stadtrand und auf dem Land."
Richtig bremsen, das üben Leudjeu und die anderen acht Fahrer ihrer Gruppe jetzt an den auf- und absteigenden Betonwegen der Pariser Philharmonie. Erste Unfälle und Schürfwunden inklusive. Leudjeu schlägt sich tapfer. Sie fällt nicht hin, aber sie weiß: Statt der Ansteckungsgefahr wartet im Stadtverkehr ein neues Risiko. "Der Verkehr in Paris beunruhigt mich“, sagt sie. "Hier zu fahren, ist in Ordnung. Aber im Stadtzentrum fahre ich zwischen Autos und Bussen."
Autofahrer nehmen kaum Rücksicht
Pferdestärke gegen Pedalkraft: In Paris ist das ein schwerer Kampf. Die Straßen der Stadt sind traditionell aufs Auto ausgelegt, deren Fahrer die Zweiräder oft misstrauisch und missgelaunt beäugen - und Rücksicht schon gar nicht nehmen. Kaum zu glauben, aber in Frankreich, dem Land der Tour de France, spielte das Rad im Alltag lange keine Rolle. Fahrradfahren, das war ein Sport, aber keine Transportalternative für den Arbeitsweg.
Paris fördert schon länger eine Politik der Veränderung. Die Stadt soll grüner und umweltfreundlicher werden. Die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo verkündete im Jahr 2015, die Gesamtlänge der Radwege in Paris bis 2020 von 700 auf 1400 Kilometer auszubauen. Erreicht hat sie ihr Ziel noch nicht, zwischen 50 und 60 Prozent der Wege soll sie bisher gebaut haben. Dafür wurden Busspuren für Räder geöffnet, aber auch viele Fahrradwege angelegt, teils mit erhöhtem Steinrand, abgetrennt von der Fahrbahn.
Sogar einen Tunnel an der Seine hat die Stadt schon gesperrt. Im blau-violetten Licht der Tunnellampen sausen seit 2016 Fahrräder, Inline-Skater und Elektro-Roller über den Asphalt in Richtung Uferpromenade.
Bis zu 60 Millionen Euro für den Radverkehr
Jetzt verstärkt Corona die Politik des Wandels. Bis zu 60 Millionen Euro stellt das französische Umweltministerium zur Förderung des Radverkehrs zur Verfügung, nicht nur in Paris, im ganzen Land. Davon bezahlt werden sollen vorübergehende Radwege, Rad-Parkplätze, aber auch Fahrradkurse zur Auffrischung. In Paris sperrte die Bürgermeisterin wegen Corona sogar eine Hauptverkehrsachse. Auf der bekannten Rue de Rivoli, die am Stadtschloss, dem Louvre, vorbei führt, fahren jetzt Räder auf der Auto-Spur. Nur Busse und Taxis sind noch erlaubt.
Auf der Rue de Rivoli fahren jetzt nur noch Fahrräder, Busse und Taxis am Louvre vorbei. Autos sind nicht mehr erlaubt.
50 Euro Zuschuss für eine Reparatur
Für Nicolas Clifford ist das eine erfreuliche Entwicklung. Der leidenschaftliche Radfahrer besitzt eine Werkstatt im Zentrum von Paris. Vor seiner Tür sammeln sich nach Ende der Ausgangssperre die Fahrradberge. An dem ein oder anderen Sattel hängen ein paar Spinnweben. Neue Bremsen oder vielleicht Pedale? Wer seinen alten Drahtesel reparieren lässt, bekommt bis zu 50 Euro Zuschuss vom Staat. Auch bezahlt von den Fördermillionen.
Eine neue Kundin schaut vorbei, gibt ihr Fahrrad ab. Nicolas Clifford macht ein Foto mit dem Smartphone und registriert das Rad erstmal. „Ich bekomme das Geld dann direkt vom Staat an die Werkstatt gezahlt“, erklärt er ihr. „Nur die Mehrwertsteuer, die müssen Sie bezahlen. Und, wenn es teurer wird als 50 Euro.“ Allein im Großraum Paris sind knapp 200 Werkstätten dabei.
Ziel: Eine Million Fahrräder fit machen
Am Anfang war der Ansturm auf das kleine Geschäft groß, langsam wird es etwas besser. "Ich fange um 9 Uhr an, und höre im Moment um Mitternacht auf", sagt Clifford. "Mein Werkstattleiter hat es jetzt endlich einmal geschafft, einen freien Tag zu nehmen. Das war das erste Mal seit drei Wochen." Kunden ablehnen, fällt ihm schwer, er möchte doch allen den Zugang zur Förderung ermöglichen. Bis zu eine Million Räder sollen bis Ende des Jahres so wieder fit gemacht werden, hofft das französische Umweltministerium.
Doch die Fahrrad-Politik, sie führt auch zu Konflikten. "Wir fühlen uns mehr und mehr durch die Autofahrer angegriffen", erklärt Werkstattbesitzer Clifford. "Wir werden immer mehr. Je mehr Platz wir einnehmen, desto mehr stören wir." Paris ist extrem dicht besiedelt. In der Stadt Paris leben mehr als zwei Millionen Menschen, in der ganzen Metropolregion sind es über 12 Millionen.
Im Auto unterwegs sind meist gar nicht die Pariser selbst, sondern die vielen Pendler, die in der Innenstadt arbeiten. Zu Stoßzeiten fahren einige öffentliche Linien schon alle zwei Minuten, doch der öffentliche Verkehr in die Stadt ist total überlastet. Wenn der Fahrrad-Boom Paris nachhaltig verändern soll, können sie nicht vergessen werden.
200 weitere U-Bahn-Kilometer entstehen
Ein Konzept für eine bessere Anbindung gibt es bereits: Das Projekt "Grand Paris" sieht im Bereich Verkehr unter anderem vor, 200 weitere Kilometer fahrerloser U-Bahn-Linie zu bauen. 68 neue Bahnhöfe sollen entstehen. Die Vorstädte sollen untereinander, und mit der Innenstadt besser verbunden werden. Seit 2015 wird gebaut, ursprünglich sollte das Projekt 2024 fertig sein, doch auch aufgrund einer massiven Kostenexplosion wird sich die Fertigstellung wohl verzögern.
Mehr Rad, weniger Autos, in der ganzen Pariser Region. Marie Christine Leudjeu findet, es wäre der richtige Weg. Am Wochenende geht sie häufig mit ihrem elfjährigen Sohn Julien spazieren. Er fährt Fahrrad. Sie ist noch zu Fuß unterwegs, aber das wird sich nach dem Fahrrad-Kurs ändern.
"Radfahren hilft bei der Gesundheit, und gegen die Luftverschmutzung. Wir gewinnen alle dadurch", sagt sie. Das findet auch Julien: "Das ist gut, man macht Sport. Und dann kann ich mit meiner Mutter Fahrradausflüge machen. Das wäre cool." Der Umstieg aufs Fahrrad gelingt in diesen Zeiten vielen.