Experte zu Verlängerung "Brexit-Verschiebung bis Jahresende"
May hofft auf eine Brexit-Verschiebung bis Juni - doch es werde wohl auf Ende des Jahres hinauslaufen, meint Europaexperte Nicolai von Ondarza auf tagesschau24. Alles andere sei angesichts der verfahrenen Lage in London unwahrscheinlich.
May hofft auf eine Brexit-Verschiebung bis Juni - doch es werde wohl auf Ende des Jahres hinauslaufen, meint Europaexperte Nicolai von Ondarza auf tagesschau24. Alles andere sei angesichts der verfahrenen Lage in London unwahrscheinlich.
tagesschau24: Unter welchen Umständen könnten die übrigen EU-Länder einer Verlängerung des Brexit-Termins bis zum 30. Juni überhaupt zustimmen?
Nicolai von Ondarza: Es gibt vor allen Dingen zwei wichtige Kriterien: Unumstößlich ist, dass die Briten an der Europawahl teilnehmen, weil man nicht riskieren will, dass Großbritannien auch noch das Funktionieren des Europäischen Parlaments beeinträchtigt. Das andere, etwas weichere Kriterium ist, dass die anderen Europäer von Großbritannien und vor allen Dingen von Theresa May hören wollen, was denn jetzt der Ausweg aus dem Schlamassel in London ist: 'Könnt Ihr zumindest einen Prozess anbieten, der uns einen Aussicht darauf gibt, dass die Brexit-Blockade irgendwann wieder gelöst werden kann - entweder über die aktuellen überparteilichen Gespräche, Neuwahlen oder sogar ein zweites Referendum.
tagesschau24: Auch wenn es eigentlich keiner will, aber bei einer Entscheidung nach dem 12. April müsste Großbritannien an der Europawahl teilnehmen, damit die Wahl nicht angefochten werden kann. Wie könnte das dann aber in der Praxis ablaufen?
Von Ondarza: Es gibt schon eine Regel, wie die britischen Sitze unter den anderen EU-Staaten verteilt werden sollen. 27 werden unter den Staaten verteilt, die anderen 46 fallen weg. Und diese Entscheidung wird jetzt einfach hinausgezögert. Also wenn es eine lange Verlängerung gibt - ich gehe eher davon aus, bis zum Ende des Jahres - dann müssten die britischen Abgeordneten in dieser Zeit im Europäischen Parlament sitzen und erst danach verändert sich die Sitz-Zusammenstellung. Das ist aber nichts Ungewöhnliches. Auch wenn in der Mitte einer Legislaturperiode neue EU-Staaten dazugekommen sind, hat sich dann auch immer jeweils während der Wahlperiode die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments verändert. Das allein kann kein Grund sein, die Verlängerung abzulehnen.
Verschiebung auf 12. April war zu kurz
tagesschau24: Donald Tusk hat einen Vorschlag gemacht, nämlich den Brexit-Termin um ein ganzes Jahr zu verschieben. Was verspricht sich der EU-Ratspräsident davon?
Von Ondarza: Man hat durch diese Verschiebung um zwei Wochen auf den 12. April jetzt gesehen, dass eine kurze Verlängerung nicht ausreicht. Die Situation in London ist so verfahren, dass eigentlich eine neue politische Situation hergestellt werden muss - über lange überparteiliche Gespräche, Neuwahlen oder ein zweites Referendum. Und deswegen sagt Tusk, 'wenn wir nochmal verlängern, wollen wir nicht jeweils immer wieder um zwei drei Wochen verlängern, sondern wir wollen eine stabile Basis bis zum Ende des Jahres'. Und dann ist das ausreichend Zeit, um in London wieder eine Einigung und eine stabile Mehrheit hinzubekommen für einen geordneter Brexit, wie auch immer der aussehen mag.
Nicolai von Ondarza leitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die Forschungsgruppe EU und Europa. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Großbritannien und der Brexit sowie die EU-Reform.
tagesschau24: Bisher waren sich ja die übrigen 27 Mitgliedsstaaten in den Verhandlungen mit Großbritannien weitgehend einig. Frankreich und Österreich haben sich heute allerdings klar gegen den Vorschlag von Donald Tusk gestellt. Ist es jetzt vorbei mit der Einigkeit?
Von Ondarza: Dass die 27 immer zusammenstanden, war bisher eine der großen Stärken der EU in diesen doch sehr schwierigen Brexit-Verhandlungen. Und ich gehe eigentlich auch davon aus, dass man nächste Woche Mittwoch auf dem Gipfel eine gemeinsame Lösung finden kann. Man spielt jetzt so ein bisschen 'bad cop, good cop'. Die Franzosen erhöhen den Druck auf die Briten und sagen, 'Wir wollen von Euch wissen, was Ihr mit dieser Verlängerung wollt'. Und ich bin überzeugt, dass am Ende eigentlich alle 27 ein Interesse daran haben, einen geordneten Brexit mit Großbritannien hinzubekommen. Aber sie haben auch ein Interesse daran, den Briten klar zu sagen, dass es eine Verlängerung nicht umsonst gibt. Sie müssen an den Europawahlen teilnehmen und der EU sagen, was sie erreichen wollen.
No-Deal-Brexit unwahrscheinlicher geworden
tagesschau24: Gleichzeitig laufen in Großbritannien die Gespräche von Premierministerin May und Labour-Chef Corbyn. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die beiden an den harten Brexit-Befürwortern - vor allem bei den Tories - vorbei einigen können?
Von Ondarza: Aus meiner Sicht ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das in den nächsten zwei, drei Tagen tun, noch relativ gering. Sie müssten ja wirklich beide ihre Parteilinien über Bord werfen. Ich glaube, es ist eher der Beginn eines Prozesses und auch ein Mittel von Theresa May, ihr Abkommen möglicherweise nach dem Europäischen Rat Ende kommender Woche noch ein viertes Mal zur Abstimmung vorzulegen. Ich glaube aber nicht, dass die Stärke der beiden Führungspersönlichkeiten groß genug ist, jetzt zu sagen: 'Wir legen die Interessen der Parteien zur Seite und schaffen wirklich einen überparteilichen Kompromiss', wie er jetzt notwendig wäre. Dafür reicht die Zeit nicht. Aber vielleicht ist das eine erste Basis, um dann in einer längeren Verschiebung tatsächlich noch eine Einigung hinzubekommen.
tagesschau24: Und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexit?
Von Ondarza: Die ist etwas gesunken in den letzten Tagen. Theresa May hat im Kabinett relativ deutlich gemacht, dass sie auch mit Blick auf Nordirland einen harten No-Deal-Brexit nicht will und hat deshalb jetzt nochmal die Verlängerung beantragt und auch die Gespräche mit Jeremy Corbyn begonnen. Ich glaube, die Gefahr für den 12. April ist nur noch gegeben, wenn die harten Brexiteers die Reißleine ziehen würden und versuchen, May zu stürzen. Dafür gibt es bisher aber keine Anzeichen, aber so wild, wie die britische Politik gerade ist, gehen wir im Grunde von Tag zu Tag und schauen, wie sich die Wahrscheinlichkeiten ändern. Stand jetzt würde ich sagen, ist eine lange Verlängerung am wahrscheinlichsten. Auszuschließen ist aber bei dem Tumult in London auch nicht, dass es doch noch zu dem harten No-Deal-Brexit kommt.
Das Interview führte Tarek Youzbachi, tagesschau24