Nach der Wahl in Belarus "Wir müssen sehr vorsichtig sein"
Wer sich in Belarus über Demonstrationen informieren will, benutzt den Telegram-Kanal NEXTA. Er wird von Oppositionellen in Polen betrieben. Im Interview schildert Blogger Stepan Putilo, was er über die Lage im Land erfährt - und wie gefährdet er ist.
ARD: Herr Putilo, wie wird sich die Lage in Belarus weiterentwickeln?
Putilo: Es wird in Belarus bestimmt nicht mehr so sein, wie es früher war: Die Gewalt der Miliz war für die Menschen noch schlimmer als die Fälschung der Wahlen. Nach dem brutalen Vorgehen der Polizei sind mehr Menschen auf die Straße gegangen als nach dem Wahlbetrug. Also es wird bestimmt nicht so wie früher. Ob ein Sieg möglich ist, ist schwer zu sagen.
ARD: Waren Sie überrascht, als Sie sahen, wie viele Menschen auf die Straße gingen?
Putilo: Ja, es war auch für uns eine große Überraschung, selbst die Menschen in Belarus haben nicht gedacht, dass so viele Bürger auf die Straße gehen würden. Man konnte es nicht vorhersehen, und die Regierung konnte es auch nicht vorhersehen. Wenn Lukaschenko vor Fabrikarbeitern spricht und die Arbeiter rufen "Geh weg! Geh weg!", dann muss das für ihn selbst eine große Überraschung sein.
Wir treffen Stepan Putilo in einem Haus irgendwo in der Gegend von Warschau, wo genau, dürfen wir nicht verraten. Hier betreiben einige junge Blogger aus Belarus den nach eigenen Angaben größten russischsprachigen Telegramm-Kanal. NEXTA ist zum wichtigsten Informationsmittel der belarussischen Opposition geworden und gilt als eine der wichtigsten Stimmen der weißrussischen Zivilgesellschaft im Netz. Der 22-jährige Student schläft nur vier Stunden, sichtet mit seinem kleinen Team Tausende Nachrichten, verbreitet sie weiter. Seit der Präsidentenwahl in Weißrussland, bei der das Internet in Belarus stark eingeschränkt wurde, sprang die Zahl der NEXTA-Abonnenten von einigen Hunderttausend auf mehr als zwei Millionen.
Eine wahre Flut von Nachrichten
ARD: Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus, woher bekommen Sie Ihre Informationen?
Putilo: Wir bekommen sehr viele Informationen, 200 Nachrichten pro Minute - also mehr als 100.000 pro Tag. Nicht alles können wir genau prüfen und analysieren. Am liebsten posten wir Videos und Handyfotos die zeigen, was genau jetzt passiert. Wir sind nur ein vierköpfiges Team und das ist natürlich nicht genug - wir versuchen, unter diesen Bedingungen gut zu arbeiten. Bis jetzt gelingt es uns.
ARD: Ist es überhaupt möglich, die Informationen und Videos zu überprüfen?
Putilo: Wir tun alles, um das, was uns erreicht, zu verifizieren. Wir haben unsere Quellen, auch wenn es jetzt, weil wir so viel bekommen, schwieriger wird, alles zu überprüfen. Deshalb veröffentlichen wir vor allem Videos und Fotos - da können wir ziemlich gut überprüfen, ob sie authentisch sind.
Erst blockiert, dann gewachsen
ARD: Wie hat es mit NEXTA angefangen?
Putilo: Es fing 2017 mit YouTube an. Einmal in der Woche haben wir etwas veröffentlicht. Dann hat die Regierung in Minsk begonnen, uns zu blockieren. Auch die russischen Behörden wollten uns abschalten - da habe ich mich entschlossen, einen neuen Kanal bei Telegram zu eröffnen, weil es dort sicherer war. Immer mehr Belarussen haben uns seitdem Informationen und Videos geschickt, so wurde NEXTA immer größer.
ARD: Wie viele Nutzer haben Sie jetzt?
Putilo: Jetzt haben wir 2.156.000 Nutzer. Das sind nicht nur die Menschen aus Belarus, auch aus anderen postsowjetischen Ländern wie der Ukraine oder Kasachstan. Alle beobachten jetzt, was in Belarus los ist. Sie unterstützen uns und wünschen unserem Volk Freiheit und den Sieg.
Das Team von NEXTA ist sehr klein, aber für die Opposition in Belarus sind die Informationen der Blogger von großer Bedeutung.
Drohungen und Hassbotschaften
ARD: Haben Sie Angst?
Putilo: Natürlich müssen wir uns um unsere Sicherheit kümmern. Wir dürfen nicht zeigen, wo wir wohnen und arbeiten. Manche von uns zeigen sich gar nicht, wollen total anonym bleiben. Wir bekommen sehr viele Drohungen und Hassbotschaften. Wir müssen sehr vorsichtig sein.
ARD: Wann waren Sie das letzte Mal in Belarus?
Putilo: Im Jahr 2018. Damals wurde meine Wohnung dort durchsucht, ein Computer und eine alte Kamera nahmen die Sicherheitskräfte mit. Es gab ein Verfahren gegen mich wegen Beleidigung des belarussischen Präsidenten. Jetzt haben die Behörden ein neues Verfahren gegen mich eröffnet, es heißt, ich würde die Menschen aufwiegeln. In Belarus drohen mir bis zu 15 Jahre Haft, in Russland stehe ich auch auf der Fahndungsliste.
Auch die Familie verließ das Land
ARD: Können Sie noch nach Belarus reisen?
Putilo: Natürlich nicht, das ist zu gefährlich. Meine Familie war während der Präsidentenwahlen noch in Belarus, meine Mutter und mein Bruder, doch dann bekamen sie einen Hinwies von Beamten, dass es für sie ungemütlich werden kann in Belarus. Mittlerweile sind sie auch in Polen.
ARD: Sehen Sie Ähnlichkeiten zur Solidarnosc-Bewegung in Polen vor 40 Jahren?
Putilo: Es gibt schon Ähnlichkeiten zur Solidarnosc-Bewegung. In Danzig haben damals zu Beginn die Werftarbeiter gestreikt, in Belarus sind es heute viele Unternehmen und Fabriken. Den Arbeitern wird von der Werksleitung mit Entlassungen gedroht, aber es wird auch Geld gesammelt zur Unterstützung von Demonstranten, die entlassen werden.
Das Gespräch führten Bettina Scharkus und Magda Karpinska, Weltspiegel