Fünf Jahre nach Bataclan-Anschlag "Der Schmerz wird immer bleiben"
Georges Salines und Azdyne Amimour verloren 2015 bei den Terroranschlägen in Paris ihre Kinder - eines war unter den Opfern, eines ein Täter. Beim Versuch, die Ereignisse zu verstehen, sind sie Freunde geworden.
Azdyne Amimour rührt fast schüchtern in seinem Kaffee. "Von der ersten Begegnung an haben wir uns gut verstanden. Ich habe entschieden verurteilt, was passiert ist. Ich bin gegen jegliche Form der Gewalt. Ich habe mich in seiner Gegenwart nie unwohl gefühlt. Ich hoffe, Georges ging es ähnlich."
Georges Salines lächelt ihm aufmunternd zu. "Auf jeden Fall", entgegnet er. Die beiden Männer sitzen in einer kleinen, rustikalen Brasserie in der Nähe der Pariser Gare du Nord.
Die Idee zu einem Treffen ging von Amimour aus, im Februar 2017 - nicht ganz eineinhalb Jahre, nachdem Salines seine Tochter Lola bei dem brutalen Terroranschlag im Pariser Club Bataclan verloren hatte. Ein dreiköpfiges islamistisches Terrorkommando war am 13. November 2015 in den Konzertsaal eingedrungen und hatte ein Massaker angerichtet. Einer der drei Terroristen war Amimours Sohn Samy.
Der Wunsch, über die verstorbenen Kinder zu reden
Amimour ist für Salines einerseits der Vater des potentiellen Mörders seiner Tochter. Nur, sagt er, wisse er nicht, aus welcher Waffe die tödliche Kugel abgefeuert wurde. "Aber das spielt für mich auch keine Rolle." Der Schmerz über den sinnlosen Tod seiner Tochter ist da. Immer, sagt Georges, er werde ihn nicht mehr verlassen.
Auch Amimour kennt diese Art von Schmerz. Auch er hat seinen Sohn verloren. Zum ersten Mal, als er sich der Familie entzog, sich radikalisierte. Zum zweiten Mal, als er nach Syrien ging - und schließlich, als er im Bataclan von Polizisten getötet wurde. Er verstehe es nicht. murmelt Amimour, den Kopf in die Hände gestützt.
Die beiden Väter haben im Laufe ihrer regelmäßigen Treffen viel über ihre Kinder gesprochen. Was war Lola für ein Mensch? Wie war sie, was mochte sie, wie hat sie gelebt?, wollte Amimour von Salines wissen. Der erzählte von Lola, von ihrem kleinen Verlag, den sie sich aufgebaut hatte, von ihren Plänen, die sie mit 28 Jahren für ihre Zukunft hatte - und auch von der Nacht, als er erfuhr, dass seine Tochter im Bataclan war.
Der Beginn eines Albtraums - dann traurige Gewissheit
Kurz nach Mitternacht kam der Anruf seines ältesten Sohnes, der Beginn des Alptraums. Er berichtete, was geschehen war, dass Lola im Bataclan war und er sie nicht erreichen konnte. "Dann hat es 18 Stunden gedauert, bis wir Gewissheit hatten."
18 Stunden, in denen Salines und seine Familie hofften, dass Lola noch lebt, in denen sie immer wieder bei den Behörden anriefen, versuchten, irgendwie an Informationen über ihre Tochter, ihre Schwester zu kommen.
Salines erzählt Amimour von dem schrecklichen Moment, als er seine Tochter in der Gerichtsmedizin identifizieren musste, und auch von Lolas Beerdigung auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Die Männer öffnen sich einander. Tabuthemen gibt es in ihren Gesprächen nicht.
Amimour wiederum will Salines erklären, was er selbst kaum begreifen kann. Wie konnte sein Sohn in die Fänge radikaler Islamisten geraten?
Er hatte überhaupt keinen Grund. Es ging ihm gut, es fehlte ihm an nichts. Wir sind gereist, waren in schönen Hotels, in guten Restaurants. Und doch hat er sich radikalisiert. Sie haben ihn sich gekrallt und ihn manipuliert.
Amimou (rechts) und Salines haben über ihre Trauer zueinander gefunden - heute verbindet sie eine große Nähe.
Amimours Sohn bleibt unerrreichbar - Salines versteht das
Immer wieder versuchte Amimour, seinen Sohn zurückzuholen. Als Moslem, der seine Religion nicht groß lebte, fing er irgendwann an, gemeinsam mit Samy zu beten. Denn er hoffte, so die Kontrolle über seinen Sohn zu behalten. Amimour erzählt Salines auch, dass er nach Syrien reiste, um Samy zu suchen. Er fand ihn in einem Camp der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) - und kam allein zurück nach Frankreich, machtlos.
Amimour habe damals Anzeichen gesehen, aber nicht alles begriffen, sagt Salines über ihn - und erinnert daran, dass die Radikalisierung des Sohnes schon 2012, 2013 stattgefunden habe, lange vor den Attentaten von 2015: "Ich habe viele Familien von Terroristen getroffen, die meisten waren auf sich gestellt und konnten die Anzeichen nicht richtig deuten."
Nach den Anschlägen vom 13. November 2015 gründete Salines mit anderen Angehörigen und Überlebenden der Attentate die Opferorganisation "13onze15" und nahm als Vereinsvorsitzender auch Kontakt zu Familien von Terroristen auf. Schon vor dem Treffen mit Amimour vertrat er die Ansicht, dass Eltern von Terroristen auch Opfer des Terrorismus sind.
"Samy hat seinen Eltern schon allein durch seinen Tod großen Schmerz bereitet. Einen Schmerz, den auch ich kenne, seit dem Tod meiner Tochter", sagt er und verweist darauf, dass Amimour, seine Frau und Samys kleine Schwester nach dem Attentat tagelang in Polizeigewahrsam waren: "Das ist doch eine unglaubliche Gewalt, die er seiner Familie angetan hat."
Nicht alle haben Verständnis für die Versöhnung
Für diese Ansicht, gerade auch in Bezug auf Azdyne Amimour, den Vater des potentiellen Mörders seiner Tochter, wird Salines oft kritisiert, sagt er. Manche Menschen störten sich daran, dass er sich als Angehöriger nicht so verhalte, wie er es in ihren Augen tun müsste: "Ein Angehöriger, ein Opfer sollte sich rächen wollen. Wie in Bruce Willis-Filmen: 'Der Typ hat meine Tochter getötet, jetzt nehme ich meine Waffe und töte den Typen.'"
Genau diesem Mechanismus widersprechen die beiden Väter. Mit ihren Gesprächen, mit ihrer Freundschaft und mit ihrem Buch "Il nous reste les mots - Uns bleiben die Worte". Trotz ihrer Verbundenheit stehen beide Männer noch immer auf verschiedenen Seiten der Geschichte. Jedes Jahr, am Jahrestag des Anschlags, wird das wieder deutlich.
Georges Salines nimmt jedes Jahr am 13. November an der Gedenkzeremonie am Bataclan teil, wo er auch alle anderen Opfer und Angehörigen trifft.
Azdyne Amimour geht auch zum Bataclan - aber anonym. Er hält sich im Hintergrund, liest sich die Namen der Opfer auf der Gedenktafel durch - und sucht den Namen von Lola. Der stehe "unten links", sagt ihm Salines. "Ja. Ich weiß", antwortet Amimour.