Eine getrennte Familie Flucht in den Krieg
Eine ukrainische Familie zwischen Schytomyr und Aschkelon: Olena Wlasenko ist mit ihren zwei jüngsten Kindern vor Russlands Raketen nach Israel geflohen. Ihr Mann ist geblieben - und sorgt sich nach dem Hamas-Angriff nun um seine Familie.
Oleh Wlasenko raucht eine Zigarette nach der anderen, während er auf sein Handy starrt. Die kurzen unscharfen Videos zeigen eine menschenleere Stadt mit Rauchschwaden im Hintergrund. "Das filmt meine Frau von ihrem Balkon in Aschkelon aus", erzählt er fassungslos. Nach fast 20 Monaten Angriffskrieg sind Sirenen oder russische Raketen- und Drohnenangriffe für ihn bitterer Alltag geworden, doch jeder Luftalarm in Aschkelon macht den 49-jährigen IT-Experten nervös.
Seine Hände zittern, als er durch die Telegramkanäle scrollt. Seine Frau Olena lebt in der kleinen israelischen Hafenstadt Aschkelon nur knapp 30 Kilometer nördlich des Gazastreifens - rund 3.500 Kilometer von Schytomyr entfernt.
Zum ersten Mal nach 25 Jahren getrennt
Bis zum russischen Großangriff lebte die Familie Wlasenko in Schytomyr rund 180 Kilometer westlich von Kiew. Dann ging Olena Wlasenko mit den beiden jüngeren der drei gemeinsamen Kinder nach Israel. Anders als ihr Mann ist sie Jüdin und die jüdische Gemeinde in Schytomyr half bei der Ausreise. Aufgrund des geltenden Kriegsrechts dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren nur in Ausnahmefällen ausreisen - doch Oleh hätte nach Israel mitkommen können, denn er sei nur bedingt armeetauglich, erzählt er.
Doch er wollte den ältesten Sohn Swjatoslaw damals nicht in Schytomyr alleine lassen. Nach 25 gemeinsamen Ehejahren sind Olena und Oleh Wlasenko also das erste Mal getrennt. "Es ist mir schwergefallen, sie gehen zu lassen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass meine Frau so lange weg war und unsere Kleinste war damals noch nicht einmal drei Jahre alt", erzählt er.
Mit den Kindern aus der Ukraine geflohen
Aschkelon sei eines der Zentren der aktuellen Eskalation zwischen der Hamas und Israel, erzählt Olena Wlasenko später am Telefon. "Wir hören, wie die israelische Luftwaffe den Gazastreifen bombardiert. Wir spüren es auch, weil wir uns in einer 30 Kilometer-Zone befinden."
Fotos zeigen eine braunhaarige, fröhlich wirkende Frau Mitte 40. Sie hat in Israel einen Job gefunden, wenn auch nicht in ihrem Beruf als Rechtsanwältin. Vom russischen Angriffskrieg ist sie nun mit der vierjährigen Tochter und dem 12-jährigen Sohn mitten in den Krieg im Nahen Osten geraten. "Es gibt Beschuss, Schäden an Häusern und leider gibt es auch Opfer in unserer Stadt", sagt sie.
Während des Telefonats mit ihr gibt es in Aschkelon Luftalarm. "Hören Sie das Raketenabwehrsystem den Iron Dome", sie. Ihre Tochter weint im Hintergrund: "Ich habe Angst." Und ihre Mutter versucht, sie zu beruhigen.
Olena Wlasenko in Jerusalem: Man könne die Zerstörung, die Hamas-Raketen anrichten, nicht mit dem Schaden vergleichen, den russischer Beschuss anrichte, sagt sie, Auch, weil Israel besser geschützt sei.
Täglich Anrufe nach Israel
Etwa 14.000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind bei der ukrainischen Botschaft in Tel Aviv registriert. Doch es leben deutlich mehr in Israel, vermutet ein Sprecher des Außenministeriums in Kiew.
Auch Sohn, Tochter und die Enkel von Oleksandr Haydar leben in Israel. Wo genau möchte der pensionierte Soldat nicht öffentlich sagen. Seine Kinder verließen die Ukraine jedoch schon von vielen Jahren. Er selbst lebt in Irpin bei Kiew und ist Geschäftsführer der "Religiösen Union der progressiven jüdischen Gemeinden der Ukraine". Seinen Angehörigen in Israel geht es gut, doch der Gedanke an die Entführten in den Händen der Hamas schmerze ihn zurzeit am meisten, sagt er in seinem Büro in Kiew.
Viele Menschen in der Ukraine haben Verwandte, Freunde und Bekannte in Israel. Jetzt sind die Leitungen wegen der vielen Anrufe überlastet, die Leute sind besorgt und rufen an. "Auch meine Frau und ich rufen jeden Tag mehrmals an, um zu fragen, wie es unseren Kindern und Freunden geht. Alle versuchen, uns zu beruhigen."
"Einander noch näher gekommen"
Für Oleksandr Haydar sind außer der Hamas Russland und der Iran die zerstörerischen Akteure im Nahen Osten. Er sieht durchaus die Gefahr eines Dritten Weltkriegs. Die westlichen Partner würden die Ukraine aber weiter unterstützen, ist er sich sicher. Seine Familie ist durch die Situation zusammengerückt. "Wir haben verstanden, wie wertvoll wir füreinander sind, wie sehr wir die Zeit schätzen müssen, die wir miteinander verbringen und wir sind einander noch näher gekommen. Ob in Kanada, Israel oder hier in der Ukraine, wir sind eine Familie."
Ukrainische Botschaft in Tel Aviv hat Hunderte evakuiert
Seit dem Hamas-Angriff auf Israel wurden laut der Botschaft in Tel Aviv bisher mindestens zwölf Ukrainer getötet, mindestens sieben gelten als vermisst. Die Botschaft hilft Ausreisewilligen, Hunderte wurden bereits nach Rumänien geflogen. Zivile Flüge in die Ukraine gibt es seit dem Beginn der russischen Großinvasion nicht mehr. Für Ukrainerinnen und Ukrainer im abgeriegelten Gazastreifen stehen Busse und Flugzeuge in Ägypten bereit.
"Iron Dome lässt nur zehn Prozent der Raketen durch"
Doch Olena Wlasenko möchte ihre neue Heimat Aschkelon bisher gar nicht verlassen. Die Kinder würden unter den verstörenden Erlebnissen in der Ukraine leiden und sie vertraue auf die israelische Raketenabwehr und den Schutzraum ihres Hauses. Bei Luftalarm und Raketenangriffen der Hamas aus dem Gazastreifen könnten sie dort tatsächlich ruhig schlafen, sagt die 45-Jährige. Sie fühlt sich in Aschkelon gut geschützt.
"Der Iron Dome lässt nur zehn Prozent der abgefeuerten Raketen durch und die Zerstörung durch diese Raketen kann man überhaupt nicht mit denen in der Ukraine vergleichen, die viel mehr anrichten", sagt sie.
Olenas Schutzraum. Hier fühle sie sich sicher, sagt sie.
Ihr Ehemann in Schytoymyr möchte, dass seine Frau mit den jüngeren Kindern zurückkommt - wenigstens für eine Weile. Das Sicherheitssystem in Israel sei auf höchstem Niveau, sagt auch er. "Aber Krieg ist Krieg und sie kamen von dem einen Krieg in den anderen. Hätten wir damals gewusst, was in Israel passieren würde, hätten wir vielleicht andere Entscheidungen getroffen, aber jetzt ist es sinnlos, an die Vergangenheit zu denken."
Entfremdung von den Kindern
Das Ehepaar schätzt die aktuelle Situation in Israel unterschiedlich ein - Olena sorgt sich um die Entwicklung in der Ukraine. Russland wolle in Israel eine Eskalation, um die Welt von der Ukraine abzulenken. "Ich erwarte, dass es auch in der Ukraine eine Art Eskalation geben wird", sagt sie.
Ihrem Mann fällt es sichtlich schwer, die Haltung seiner Frau zu akzeptieren. Er glaubt, seine Olena schätze die Gefahr nicht richtig ein. Auch die Entfremdung von den beiden Kindern in Israel macht Oleh zu schaffen, besonders zur jüngeren Tochter, die schon sehr gut hebräisch spricht. Via Internet kann man doch immer und überall in Verbindung sein, dachte der IT-Experte bisher. Nun muss er sich eingestehen, dass Telefon- oder Videokommunikation die direkte Kommunikation und Umarmungen mit Frau und Kindern nicht ersetzen kann. "Sie trifft eigene Entscheidungen und das verändert sie. Für uns ist es schwieriger geworden, miteinander zu kommunizieren", sagt er.