Sechs Monate nach Erdbeben Eine türkische Provinz ringt nach Luft
Sechs Monate sind seit dem verheerenden Erdbeben in der Türkei vergangen. Noch immer gibt es in den betroffenen Gebieten viele Probleme, vor allem mit Unterkünften. In der Stadt Samandag sind die Anwohner zudem einem Staub ausgesetzt, der im Verdacht steht, giftig zu sein.
Der Staub durchzieht die Stadt Samandag wie die Luft zum Atmen. Innerhalb weniger Minuten legt er sich auf die Haut, setzt sich in den Haaren fest und brennt in den Augen. Das Problem - es ist überall, jeden Tag. Denn auch sechs Monate nach dem Erdbeben werden in der Küstenstadt der Provinz Hatay, im äußersten Süden der Türkei, Geröll und Schutt abgetragen. Mittendrin leben unzählige Menschen wie Rosa Demetgül: Die 37-Jährige wohnt wie die meisten, die hier geblieben sind, seit Monaten zwischen eingestürzten Häusern.
Gezwungenermaßen verbringt sie die meisten Zeit draußen. "Das liegt daran, dass es in den Containern sehr heiß ist und es meistens auch keinen Strom gibt", sagt sie mit ruhiger Stimme. Gegen den Staub schützen kann sie sich kaum: "Draußen den ganzen Tag eine Maske zu tragen, das klappt nicht. Du isst etwas, trinkst etwas. Und dieser Staub dringt überall ein."
Demetgül lebt momentan mit ihren Eltern und ihrer Schwester Yildiz in einem selbstorganisierten Container auf dem Grundstück ihres eingestürzten Hauses. Eine schwierige Situation: Hier starb Rosas jüngere Schwester unter den Trümmern. Deren Sohn, Rosas Neffe, liegt bis heute mit schweren Verletzungen im Krankenhaus.
Die Familie versucht dennoch, irgendwie weiter zu machen. Ihre Heimat war bis vor dem Erdbeben für ihre Fülle an Obst und Gemüse bekannt, vor allem für prächtige Feigen- und Zitronenbäume. Demetgül ist stolz auf ihren Garten - doch jetzt sehen die Beet trostlos aus, auf den Blättern hängt dichter Staub. "Normalerweise müsste hier alles voll hängen", erklärt sie. "Aber aufgrund des Staubs und all der Chemie, die in der Luft hängt, wächst hier gar nichts mehr." Wasser zum Gießen fehlt sowieso.
Asbest und Schwermetalle im Schutt
Täglich wird Demetgül von einer Angst und der bangen Frage begleitet: Was macht dieser Staub mit uns? Denn selbst, wenn die Aufräumarbeiten bei ihnen im Viertel irgendwann vorbei sind, bleibt ein weiteres Problem: Was passiert mit dem ganzen Bauschutt? "Sie haben ihn ja nicht weit weg von hier gebracht, sondern ihn in der Nähe des Strands abgeladen. Inzwischen ist das ein unglaublich hoher Schuttberg geworden, höher als Strommasten."
Direkt am Stadtrand von Samandag, unweit der Küste, erstreckt sich die Deponie über mehrere hundert Meter. Auf dem riesigen Areal graben Bragger neue Gruben, Bauschutt-Lkw liefern ständig neue Ladungen voller Geröll. Das Brisante: Was hier gelagert ist, soll zum Teil hochgiftig sein. Das zeigt auch ein Bericht der Istanbuler Umweltingenieurskammer. Von acht Stichproben verschiedener Deponien in der Region sind vier stark asbestbelastet. Hinzu kommen Schwermetalle wie Quecksilber, beispielsweise aus Elektrogeräten, die unter den Trümmern zerstört wurden.
Die Ärztekammer der Provinz Hatay ist alarmiert. Seit dem Erdbeben stelle man einen deutlichen Anstieg an Allergien, Atemwegserkrankungen und Augenleiden fest, erklärt der Arzt Ali Kanatli. "Es müssten dringend Vorkehrungen zum Schutz der Menschen getroffen werden. Denn wir wissen: Asbest führt in vielen Fällen zu Lungen - oder auch Magenkrebs, oft erst nach 20 oder 25 Jahren." Besonders gefährlich sei die Tatsache, dass man die Gefahr nicht eingrenzen könne. Schwermetalle würden sich an den Staub heften, quasi unsichtbar.
Leute "können Gefahr nicht einschätzen"
Aktivisten versuchen die Anwohner in Samandag über die beinahe unsichtbare Gefahr aufzuklären. Die Gruppe "Yeni Insaat Platformu" verteilt regelmäßig gratis FFP3-Masken und sucht dabei das Gespräch. Vielen Menschen sei die Gefahr des Staubes überhaupt nicht bewusst, erzählt Ingenieurin Gizem Cabbaroglu - auch weil sie andere Sorgen hätten. "Viele sagen uns: Wir sind sowieso schon so gut wie tot. Wir haben so viele Opfer zu beklagen und sehen keine Unterstützung von der Regierung. Ist die Sache mit dem Staub wirklich so wichtig? Sie können die Krebsgefahr nicht einschätzen, weil sie so auf ihren aktuellen Schmerz fixiert sind."
Doch einige Anwohner in Samandag spüren die Folgen des Staubes bereits jetzt. Nuray Cinar, die mit ihrer Familie in Zelten in der Nähe iohres eingestürzten Hauses untergebracht ist, erzählt, sie habe starke Atemprobleme. "Nachts verlasse ich zwei, drei Mal das Zelt, in dem wir schlafen, weil ich einfach keine Luft mehr bekomme. Es ist wirklich schwierig."
Unterkünfte außerhalb der Stadt gebe es kaum, berichten Anwohner und Aktivisten. Vielen hier bleibe nichts anderes übrig, als in Zelten oder Containern inmitten von Häuserruinen zu übernachten - derzeit bei tagsüber 40 Grad. Um den Staub zumindest etwas einzudämmen, müssten die Abtragungsarbeiten bewässert werden. Doch laut den Aktivisten der Gruppe "Yeni Insaat Platformu" passiere das in den seltensten Fällen. "Leider fangen die meisten Bauunternehmen damit erst an, wenn sie die Presse sehen", erklärt Gizem Cabbaroglu.
Anstehen für Trinkwasser-Rationen
Wasser ist ohnehin das zweite großes Problem in Samandag und der gesamten Provinz Hatay, vor allem der Mangel an trinkbarem. Dafür stehen die Bewohner oft stundenlang an. Denn was aus den Leitungen fließt, könne man nicht trinken: "Das Wasser aus der Leitung ist ganz weißlich verfärbt", berichtet eine Anwohnerin, die zusammen mit hunderten Menschen Schlange vor einem Lkw mit Wasserlieferungen steht. "Wir wissen nicht, was da drin ist. Kalk oder doch etwas anderes? Neben uns werden Häuser abgerissen, wer weiß was da rein fließt."
Die Wasserlieferungen sind organisiert von Freiwilligen, auch mit Spenden aus Deutschland und anderen Ländern. Organisator Meric Gültekin sorgt dafür, dass es auch sechs Monate nach dem Beben tägliche Wasserlieferungen gibt, ohne staatliche Unterstützung. "Unsere Provinz Hatay ist nicht einfach krank oder ein Intensivpatient", sagt der Mann, der von Beruf eigentlich Comedian ist. "Wir liegen immer noch im Koma. Und wann wir jemals wieder zu uns kommen, weiß niemand."
Diese Gefühl haben auch Rosa Demetgül und ihre Familie. Die Aufräumarbeiten kommen ihr endlos und ohne System vor, erzählt sie. "Mal arbeiten sie bis drei, mal nur bis ein Uhr. Dann geht ihnen das Benzin aus und sie kommen erst am nächsten Tag wieder. Und dann fängt das mit dem Staub wieder von vorne an."
Wie lange die Aufräumarbeiten und der Wiederaufbau noch dauern werden, ist unklar, viele rechnen aber mit mehreren Jahren. Für die Menschen in Samandag heißt das: Der Staub wird sie weiter begleiten, genau wie seine Folgen.