Hamas-Anführer Sinwar Der Stratege des Terrors
Jahia Sinwar, Anführer der Hamas im Gazastreifen, gilt als Drahtzieher der Terrorangriffe. Nun soll er in einem Tunnel mit Geiseln gesprochen haben - auf Hebräisch. Dabei zeigt er sich sonst selten. Wer ist er?
Für einige Geiseln im Gazastreifen muss es verwirrend gewesen sein. In einem der Tunnel der Hamas öffnet sich eine Tür. Ein Mann erscheint und sagt in makellosem Hebräisch: "Ihnen passiert nichts. Hier sind Sie sicher." So berichtet es eine Frau, die freigelassen wurde.
Der Mann war kein Geringerer als Jahia Sinwar, bekannt als Abu Ibrahim oder "Schlächter von Chan Yunis". Seit nunmehr zwölf Jahren ist er der zweitmächtigste Anführer nach Hamas-Oberhaupt Ismail Hanija - und er ist der im Gazastreifen am meisten gesuchte Terrorist.
"Wir werden Jahia Sinwar kriegen und wir werden ihn töten", sagte Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant. Der Sprecher der israelischen Streitkräfte, Daniel Hagari, bezeichnete Sinwar kürzlich als den Kommandanten der Angriffe auf Israel und drohte: Er sei ein toter Mann.
Intelligent, skrupellos, gebildet: So schätzen Kenner aus Israel den Gaza-Chef der Hamas ein.
Bezeichnende Hassrede von 2022
Sowohl für die israelische Regierung und die Armeeführung gibt es keinen Zweifel: Sinwar ist einer der Drahtzieher vom 7. Oktober, bei dem mehr als 1.000 Hamas-Terroristen Israel überfielen, mordeten und Geiseln nahmen.
Ein Plan, den Sinwar schon länger gehegt haben muss. Vor einem Jahr rief er bei einem seiner seltenen Auftritte in Gaza zur Gewalt gegen Israel auf: "Jeder, der eine Waffe besitzt, sollte sie vorbereiten. Wer keine Waffe hat, nimmt sein Schlachtmesser, seine Axt", rief er der Menge entgegen und richtete das Wort auch an die Palästinenser im Westjordanland: "Die Taten von Einzeltätern haben sich bewährt. Ein zwei, höchstens drei Menschen dürfen beteiligt sein. Darüber hinaus darf keiner davon wissen."
Hatte sich Sinwar damals schon den Plan für die Angriffe auf Israel zurechtgelegt? Vieles liegt noch im Dunkeln. Einiges hat die israelische Armee bereits aus den Tunneln der Hamas ans Tageslicht geholt.
Dabei scheint eines immer deutlicher zu werden: Nur wenige sollen zuvor in den Terrorplan vom 7. Oktober eingeweiht gewesen sein. Zu ihnen habe Jahia Sinwar gehört, sagt der israelische Fernsehjournalist Ehud Yaari. Er betont, dass Sinwar schon 1988, als er kurz nach der Gründung der Hamas verhaftet wurde, geplant habe, israelische Soldaten zu entführen. Unter anderem wegen des Mordes an zwölf Palästinensern sollte er 400 Jahre Haft verbüßen.
"Skrupellos, hinterlistig, intelligent"
Ahmed Yassin, den Gründer der Hamas, hatte der 1962 in Gaza geborene Sinwar schon während seines Studiums kennengelernt - eine Verbindung, die ihm beim Aufstieg zum Hamas-Chef in Gaza half.
22 Jahre lang saß Sinwar im Gefängnis in Israel, oft in Isolationshaft - und habe sich radikalisiert, sagt Yaari. Viermal hat er Sinwar im Gefängnis interviewt. "Er ist skrupellos, hinterlistig, schlau und intelligent. Meiner Meinung nach ist er ein Psychopath mit Borderline-Syndrom, der Menschen, hauptsächlich Palästinenser, mit eigenen Händen stranguliert und getötet hat."
Im Gefängnis soll Sinwar Yaari zufolge eine Herrschaft des Schreckens aufgebaut haben. Er sei sehr schnell zum gefürchteten Anführer der gefangenen Hamas-Mitglieder und aller palästinensischer Hochsicherheitsgefangener in Israel geworden, berichtet Yaari.
Er erzählt, wie Sinwar vor ihm geprahlt habe, er habe einen palästinensischen Verräter bestraft, indem er den Bruder des Mannes zwang, ihn lebend zu begraben. Statt einer Schaufel habe der einen Löffel nehmen müssen. Das erklärte Ziel Sinwars sei es, alle Menschen in Israel entweder zu töten oder zu vertreiben.
Sinwar benutzt die israelischen Medien
Als Strategen, der die Medien verfolgt und jeden für seine Zwecke benutzt, beschreibt ihn auch die ehemalige Geheimdienstbeauftragte des israelischen Gefängnisdienstes Betty Lahat. Etwa 20 Jahre lang hatte sie im Gefängnis mit dem Terroristen zu tun. Sie schildert, wie Sinwar mit Hilfe von Anwälten Botschaften zwischen den Haftanstalten übermittelt habe, um seinen Einfluss zu sichern: "Er benutzte die israelischen Medien und tut das noch. Davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Er sieht sich im Fernsehen an, wie es zu einer Spaltung in unserem Volk kommt. Er ist ein echter Fuchs. Er kennt das israelische Volk", sagte Lahat.
Als Sinwar in Gefangenschaft an Krebs erkrankte und die israelischen Ärzte ihn behandelten, habe sie ihn einmal gefragt, ob er dankbar sei. Laut Lahat sagte er: "Nein, das ist eure Aufgabe."
Als seine Aufgabe soll Sinwar alles sehen, was ihm dabei hilft, Israel zu vernichten. Dazu habe für ihn auch gehört, die Sprache des Feindes zu lernen, sagt der israelische Journalist Ohad Hemo.
Den Feind mithilfe seiner Sprache verstehen
Hemo ist einer der wenigen israelischen Reporter, die auch aus dem Westjordanland berichten. Hemo erzählt ebenso wie Yaari, dass Sinwar bei Gefängnisbesuchen darauf bestanden habe, Hebräisch zu sprechen. "Er kennt Kapitel unserer Thora auswendig - auf Hebräisch. Nicht, weil es sich um einen großen Theologen handelt. Sinwar versucht in unserer Sprache zu verstehen, wann Israel zerstört wird, wie dieser jüdisch-muslimische Konflikt enden wird", erinnert sich Hemo. Durch dieses gemeinsame Ziel sei Sinwar sehr mit dem Iran verbunden, der die Hamas unterstützt hat.
Dem heute 61-jährigen Sinwar gelang es mehrmals, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. Dank israelischer Ärzte überlebte Jahia Sinwar seine Krebserkrankung in Haft. Aus dem Gefängnis kam er vorzeitig frei, weil ihn Israel mit mehr als 1.000 Gefangenen gegen den israelischen Soldaten Gilad Shalit austauschte.
Nach seiner Freilassung im Jahr 2011 kehrte Sinwar in einen Gazastreifen zurück, in dem die Hamas herrschte. Schnell stieg er in der Hierarchie auf; soll auch ein Attentat überlebt haben. Vor zwölf Jahren gelang es ihm schließlich, zum Anführer der Terrororganisation im Gazastreifen gewählt zu werden. Seither ist er dort der von Israel meistgesuchte Mann.