Posts zu Hamas-Gefangenschaft Was Bilder der Geiseln aussagen - und was nicht
Auf Bildern der Freilassung wollen Social-Media-Nutzer erkannt haben, dass einstige Hamas-Geiseln für die Täter Zuneigung und Dankbarkeit empfinden. Dabei lässt sich das aus der Ferne kaum beurteilen.
Handschläge, freundliches Lächeln, gar verliebte Blicke auf die Geiselnehmer: Was Social-Media-Nutzer bei der Übergabe von Geiseln aus der Gewalt der Hamas an Kräfte des Roten Kreuzes beobachtet haben wollen, klingt, als hätten diese sich in der Gefangenschaft mit den Tätern verbrüdert, seien ihnen dankbar.
Mit den Aussagen, die frühere Geiseln, Überlebende und Augenzeugen des Hamas-Terrorangriffs vom 7. Oktober in Interviews treffen, passt diese Interpretation nicht zusammen - und auch Experten halten eine seriöse Einschätzung nur aufgrund des Bildmaterials für unmöglich.
"Überlebensstrategie" der Geiseln
"Geiseln suchen in so einer traumatischen Situation nach einem Ausweg und entwickeln einen sogenannten Abwehrmechanismus und eine Überlebensstrategie, der ihnen dann auch hilft, mit so einer traumatischen Situation fertig zu werden", sagt Thorsten Hofmann, Leiter des Center for Negotiation an der Quadriga Hochschule Berlin. Dazu gehöre auch, einen Kontakt zu den Geiselnehmern aufzubauen, da diese in der Situation für die Geiseln die allmächtigen Herrscher seien.
Besonders bei politisch und ideologisch motivierten Geiselnahmen wie von der militant-islamistischen Hamas ist das aus Sicht von Hofmann auch die vielversprechendste Strategie. "In dem Fall ist es häufig so, dass die Entführer ihre Geiseln als minderwertiges Leben oder gar als Ungeziefer sehen. Wenn ich es dann schaffe, mit den Geiselnehmern eine persönliche Beziehung aufzubauen, reduziert das zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass ich verletzt oder getötet werde."
Genauso sei es jedoch auch denkbar, dass Geiseln in so einer psychischen Ausnahmesituation eine verzerrte Wahrnehmung von den Tätern entwickelten, sagt Ingo Schäfer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). "Es gibt das Phänomen, dass der Täter nicht nur als negativ wahrgenommen wird oder dass sogar eine Form von Bindung an den Täter entsteht." Dies sei auch bei ähnlichen Feldern wie der Zwangsprostitution oder häuslicher Gewalt zu beobachten. Das verzerrte Bild vom Täter könne auch nach der Geiselnahme noch länger anhalten.
Viele Faktoren noch unbekannt
Insgesamt spielten jedoch so viele Faktoren eine Rolle, dass eine seriöse Einschätzung für die Motive der Geiseln aus der Ferne nicht möglich sei, sagt Schäfer - sowohl auf individueller Ebene zwischen Geiselnehmern und Geiseln als auch aufgrund der jeweiligen öffentlichen Interessen, die damit verbunden seien.
Auch die körperliche Verfassung der Geiseln ist ein Umstand, über den erst nach und nach Informationen bekannt werden. Alle Freigelassenen sahen im Moment ihrer Übergabe deutlich abgemagert aus. Die Kinderärztin Yael Mozer-Glassberg, die freigelassene Kinder und Frauen behandelte, attestierte den Patienten unter anderem durch Mangelernährung ausgelöste Stoffwechselprobleme. Die befreiten Kinder seien sehr eingeschüchtert gewesen und hätten zunächst tagelang nur leise gesprochen.
Hagar Mizrahi, Chef der medizinischen Abteilung des israelischen Gesundheitsministeriums, erhob Anfang Dezember bei einer Anhörung in der Knesset den Vorwurf, man habe den Geiseln Clonazepam verabreicht - ein angstlösendes Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine. Ob diese Information aus Berichten der ehemaligen Gefangenen oder Blutuntersuchungen gewonnen wurde, teilte er nicht mit.
Dass Geiseln Drogen verabreicht werden, komme häufiger vor, sagt Hofmann. "Dadurch sollen die Geiseln ruhig gehalten werden und Aggressionen unterdrückt werden." Sie seien dadurch aus Sicht der Entführer einfacher zu kontrollieren. Ob die Hamas diese Mittel einsetze, sei von außen natürlich nicht zu belegen.
Der Handschlag einer 85-Jährigen
Manche Social-Media-User sahen in Mizrahis Aussage die Bestätigung ihrer Spekulationen, das vermeintlich seltsame Verhalten der Geiseln bei ihrer Freilassung gehe auf Drogeneinfluss oder Traumatisierung zurück. Etwa hatte im Oktober die 85-jährige Yocheved Lifshitz einem vermummten Hamas-Terroristen die Hand gegeben und sich mit hebräischen Gruß "Schalom", der "Frieden" bedeutet, verabschiedet. Viele Israelis warfen ihr daraufhin vor, der Hamas einen Propaganda-Erfolg verschafft zu haben. Andere zweifelten die Zurechnungsfähigkeit der 85-Jährigen an.
Auf einer Pressekonferenz nach ihrer Freilassung wirkte Lifshitz jedoch gefasst und rational. Sie sei durch die Hölle gegangen, sagte sie über die Entführung. Darüber, wie die Hamas sie behandelt habe, äußerte Lifshitz sich ambivalent: Einerseits berichtete sie, die Geiseln hätten die gleiche Verpflegung erhalten wie ihre Entführer, die auf die hygienischen Bedingungen im Versteck bedacht gewesen seien und den Geiseln Zugang zu regelmäßig gereinigten Toiletten gewährt hätten; außerdem sei alle zwei, drei Tage ein Arzt gekommen.
Die Worte von Lifshitz sollten aus Sicht von Hofmann allerdings unbedingt vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass sie ihren 83-jährigen Ehemann Oded bei ihrer Freilassung zurücklassen musste, sein Verbleib ist unklar. "Sagt sie das jetzt wirklich aus ganz freien Stücken oder sagt sie das vielleicht auch aus Angst um ihren eigenen Mann?"
Ohnehin könne es vorkommen, dass Geiseln sich auch nach der Freilassung unsicher fühlen, sagt Hofmann. "In dieser Zeit sind sie daher aus Sicht der Geiselnehmer noch leichter manipulierbar. Das heißt, wenn ich der Geisel etwas sage, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie das auch umsetzt."
"Verliebt" nach schwerem Leiden?
Die 21-jährige Maya Regev wurde bei ihrer Freilassung Ende November auf Krücken von vermummten, bewaffneten Hamas-Terroristen zu den israelischen Kräften gebracht. Ihr 18-jähriger Bruder Itay befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Gewalt der Hamas. Er ist inzwischen frei, der gemeinsame gute Freund Omer Shem Tov nicht. Nach ihrer Übergabe hob Regev im Fahrzeug des Roten Kreuzes sitzend kurz die Hand und winkte, drehte ihren Kopf dabei den Bewaffneten zu. Auf Social Media deuteten einige Nutzer ihre kurze Geste als "Verliebtheit".
Was die beiden jüngst in einem Fernsehinterview schilderten, spricht jedoch eine andere Sprache: Sie hatten gemeinsam ein Musikfestival besucht, das am 7. Oktober von Hamas-Terroristen gestürmt wurde. Die Geschwister berichten, wie Terroristen ihnen in die Beine schossen, sie auf Pickup-Fahrzeugen in den Gazastreifen verschleppten und durch einen unteriridischen Tunnel in eine Klinik schleusten. Dort seien sie zwar rudimentär ärztlich behandelt worden, die Terroristen hätten sie jedoch massiv eingeschüchtert und immer wieder mit dem Tod bedroht.
Maya Regev oder andere ehemalige Geiseln berichten zwar bislang nicht davon, sexualisierte Gewalt durch die Entführer erlitten zu haben. Über ihre Gefangenschaft in der Wohnung eines Hamas-Terroristen, wo sie mit gebrochenem Arm im Bett lag, schildert die Ende November befreite 21-jährige Mia Schem allerdings, dass sie große Angst davor hatte. Denn ihr Entführer habe sie unaufhörlich beobachtet und "mit den Augen vergewaltigt": "Seine Frau war mit den Kindern im Zimmer nebenan. Das ist der einzige Grund, warum er mich nicht vergewaltigt hat", sagte sie.
Im Oktober hatte die Hamas ein Video veröffentlicht, das zeigt, wie Schems Arm verbunden wird und sie - noch in Gefangenschaft - in die Kamera sagt, die Hamas habe sich um sie gekümmert und es sei alles in Ordnung. In dem späteren Interview erklärte sie, zu den Aufnahmen gezwungen worden zu sein. Zudem sagte Schem, dass sie kurz vor der Freilassung gezwungen worden sei, zu sagen, ihre Entführer hätten sie nett behandelt.
Dass es insbesondere Frauen in der Gewalt der Hamas gut ergangen sein soll, steht aber im scharfen Kontrast zu den dokumentierten Taten bei ihrem Überfall am 7. Oktober: Augenzeugen und Ermittler berichten übereinstimmend, dass die Terroristen an mehreren Schauplätzen gezielt Frauen ergriffen, vergewaltigten und verstümmelten, bevor sie sie ermordeten. An den Tatorten blieben Frauenleichen mit gespreizten Beinen, abgeschnittener Brust, spitzen Gegenständen oder Blutflecken im Genitalbereich zurück.
Geiseln sollen unter Drogen gesetzt worden sein
Viele der inzwischen Freigekommenen haben sich in intensive Psychotherapie begeben. Was die behandelnden Ärztinnen und Ärzte schildern, lässt kaum den Schluss einer Verbrüderung mit der Hamas zu. Renana Eitan, die Leiterin der Psychiatrie am Tel Aviver Ichilow-Krankenhaus, sagte dem "Guardian" in einem Ende Dezember veröffentlichten Bericht, ihren Patienten sei die schlimmste Misshandlung und Traumatisierung widerfahren, die sie in ihrer Laufbahn erlebt habe.
Unter den 14 ehemaligen Hamas-Geiseln, die bei Eitans Abteilung in Behandlung sind, seien neun Minderjährige - zwei von ihnen jünger als zehn Jahre. Ihr Team habe "das Ausmaß der Grausamkeit nicht glauben" können: Eine Frau sei in einem kleinen Käfig gefangen gehalten worden, eine andere sei zusammengebrochen, nachdem sie mehrere Tage in völliger Dunkelheit verbracht hatte. Eitan berichtet zudem von Kindern, die unter Entzugserscheinungen litten, nachdem die Geiselnehmer ihnen in Gefangenschaft Ketamin verabreicht hätten.
"Als sie zurückkamen, schienen sie zunächst sehr glücklich und erleichtert zu sein. Und sie waren auch sehr optimistisch", wird Eitan vom "Guardian" zitiert. "Bestimmt haben Sie die Bilder der Kinder gesehen, die in die Arme ihrer Väter rennen. Aber nach ein, zwei Tagen haben wir die Kehrseite gesehen und begriffen, dass sie üble Alpträume haben, Flashbacks (sogenannte 'intrusive memories' in Alltagssituationen zählen zu den Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung, PTBS, Anm. d. Red.), dass sie sehr verängstigt sind." Einige wüssten zeitweise nicht, wo sie seien oder hätten Angst zu schlafen, da sie sich nach dem Aufwachen zunächst wieder in der Gewalt der Hamas wähnten.
PTBS kann erst später auftreten
Mit der Freilassung sei die Leidenszeit für die Geiseln nicht automatisch beendet - das zeigten Fälle aus der Vergangenheit, wie Schäfer betont: "Posttraumatische Belastungsstörungen können auch erst nach der eigentlichen Stresssituation auftreten. Die Menschen spüren die Belastung manchmal erst dann, wenn sie wieder in Sicherheit sind und der Stress sich gelegt hat."
Wie lange und intensiv mögliche Traumata sich bei Betroffenen halten, hänge von mehreren Faktoren ab, sagt Schäfer: "Natürlich bleiben solche sehr einschneidende Erlebnisse immer ein Teil der Biographie und können auch sehr langfristige Auswirkungen haben. Auf der anderen Seite gibt es zum Glück wirkungsvolle Therapien, gerade auch für posttraumatische Störungen, sodass es nicht für alle Betroffenen einen anhaltenden belastenden Charakter haben muss."
Neben einer Therapie spielten auch das soziale Umfeld, die Resilienz eines Betroffenen sowie zusätzlicher Stress nach den Erlebnissen eine Rolle bei der Bewältigung eines Traumas, sagt Schäfer. Besonders Letzteres könne durch die politisch stark aufgeladene Situation und den damit einhergehenden Druck auf die Geiseln negative Folgen haben. Falsche Unterstellungen oder eine versuchte Instrumentalisierung sollten daher vermieden werden.