Israelische Soldaten beziehen in der Nähe von Kfar Azain der Nähe des Gazastreifens Position.
interview

Vor Bodenoffensive? "Das Risiko für Israels Truppen ist sehr hoch"

Stand: 10.10.2023 15:09 Uhr

Ob Israel eine Bodenoffensive im Gazastreifen beginnt, ist nach Ansicht der Nahost-Expertin Asseburg noch nicht sicher. Die israelische Armee würde dabei gleich mehrere Risiken eingehen - und damit kalkuliert auch die Hamas.

tagesschau.de: Israel bereitet eine Bodenoffensive im Gazastreifen vor - das ist derzeit die allgemeine Einschätzung. Teilen Sie diesen Eindruck?

Muriel Asseburg: Nach allem, was ich derzeit weiß, ist die Entscheidung, ob und wann es nach den Gräueltaten der Hamas eine Bodenoffensive gibt, noch nicht getroffen worden. Aber Israel bereitet sich darauf vor, um die Möglichkeit zu haben. Wir sehen das an der Generalmobilmachung, an der Verlegung von Truppenteilen sowohl in den Süden als auch in den Norden.

Die israelische Regierung und die militärische Führung müssen dabei verschiedene Faktoren abwägen: Wie kann man das Leben der Geiseln sichern? Wie geht man mit der Infiltration im Norden um? Wie vermeidet man einen Mehr-Fronten-Krieg? Und wie vermeidet man insbesondere das sehr hohe Risiko, das für die eigenen Soldaten im Fall einer Bodenoffensive besteht? Das ist wichtig in einer Situation, wo man anscheinend eine mangelhafte Aufklärung hat.

Muriel Asseburg
Zur Person
Dr. Muriel Asseburg arbeitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem der Nahostkonflikt, Israel, die palästinensischen Gebiete sowie die deutsche, europäische und amerikanische Politik gegenüber der Region.

"Hamas kann aus dem Hinterhalt agieren"

tagesschau.de: Was erwartet die israelische Armee militärisch im Gazastreifen? Wie stark ist die Hamas?

Asseburg: Die Hamas ist insofern im Vorteil, als sie das Terrain sehr gut kennt und aus dem Hinterhalt heraus agieren kann. Natürlich hat die israelische Armee eine sehr viel stärkere Feuerkraft und kann viele, gut ausgerüstete Soldaten in den Gazastreifen schicken und ihnen Luftunterstützung geben. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es ihr gelingen wird, der Hamas große Verluste zuzufügen.

Das Risiko für die israelischen Truppen ist dennoch sehr hoch, weil sie nicht genau wissen, wo Kämpfer versteckt, wo die Waffendepots sind, wo sich die Geiseln befinden. Die israelische Armee könnte im Häuserkampf hohe Verluste erleiden. Ich vermute, dass die Hamas das miteingeplant hat und bereit ist, dem israelischen Militär - selbst auf Kosten der eigenen Sicherheit - hohe Verluste zuzufügen.

"Die Gefahr ist groß, dass viele Geiseln sterben"

tagesschau.de: Welches Schicksal droht den Geiseln im Falle einer Bodenoffensive?

Asseburg: Es kommt darauf an, wann die Bodenoffensive stattfindet. Wenn es gelänge, im Vorfeld einer Bodenoffensive einen humanitären Korridor einzurichten, könnte zumindest ein Teil der Geiseln - Frauen, Kinder, Alte - freikommen, wenn entsprechend weibliche palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen freigelassen würden. Darüber hat es wohl erste Gespräche mit der Hamas gegeben, die aber nicht erfolgreich waren. Wenn es nicht zu einer solchen Abmachung kommt, ist die Gefahr groß, dass viele Geiseln sterben. Nicht zuletzt: Die Hamas hat jetzt schon angedroht, dass sie jedes Mal, wenn die Armee ein Wohnhaus angreift, ohne vorher zu warnen, eine Geisel erschießen werden.

Was wird aus dem Normalisierungsprozess?

tagesschau.de: Aus dem Libanon gab es in den vergangenen Tagen Angriffe und Infiltrationen. Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass es am Ende zu einem Zweifrontenkrieg kommt?

Asseburg: Ich halte das Risiko für sehr groß, es ist ja bereits zu ersten Scharmützeln gekommen. Aber das ist nicht der einzige Eskalationspunkt. Der andere wäre das Westjordanland inklusive Ostjerusalem. Und theoretisch besteht auch die Gefahr, dass sich militante Gruppen aus Syrien in den Konflikt einmischen.

tagesschau.de: Eine Eskalation könnte auch Auswirkungen auf die Nachbarländer haben, von denen einige sich in den vergangenen Jahren und Monaten Israel angenähert haben. Was bleibt von diesen Prozessen?

Asseburg: Wenn es unter den Palästinensern zu hohen Opferzahlen kommt, dürfte es für die Länder, die Normalisierungsabkommen mit Israel geschlossen haben, schwer werden, diese Normalisierung sichtbar weiterzuführen. Das heißt nicht, dass sie ihre Normalisierungsabkommen aufkündigen werden, aber die positive Dynamik der ersten Monate wird in nächster Zeit sicher erst einmal vorbei sein. Ich gehe auch davon aus, dass die Gespräche, die es zwischen Saudi-Arabien, den USA und Israel über eine Normalisierung der Beziehungen gegeben hat, erst einmal ausgesetzt werden und erst zu einem deutlich späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden.

Das Kalkül der Hamas

tagesschau.de: Die militärische Überlegenheit der israelischen Armee steht außer Zweifel, und das ist vermutlich auch der Hamas klar. Geht es ihr also vor allem darum, der israelischen Armee hohe Verluste zuzufügen - und sei es um den Preis der Zerschlagung der eigenen Führungsstrukturen?

Asseburg: Ich denke, es geht um die Profilierung als "Widerstandsbewegung". Die Hamas rechnet sicher damit, dass ihre militärischen Einrichtungen im Gazastreifen zerstört und ihre Führungsstrukturen dort zerschlagen werden. Aber die Unterstützerbasis der Hamas wird damit nicht beseitigt, ganz im Gegenteil, und deshalb ist die Frage, ob die Zerschlagung der Strukturen im Gazastreifen dann tatsächlich einen Sieg Israels über die Hamas darstellt oder ob die Hamas sich anders aufstellt und aus dem Exil operiert.

tagesschau.de: Kalkuliert die Hamas dabei nicht auch das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ein, die ohnehin unter denkbar schlechten Bedingungen lebt?

Asseburg: Ja, das ist eine skrupellose Kalkulation.

"Ein militärischer Erfolg bewirkt keine De-Radikalisierung"

tagesschau.de: Wenn man eine Bodenoffensive startet, muss man auch eine Vorstellung haben, was man nach einem militärischen Erfolg mit der Region macht. Denkt die israelische Führung so weit?

Asseburg: Darüber höre ich bislang keine Diskussion und sehe keine Stellungnahmen aus der israelischen Politik oder aus dem israelischen Militär. Soll der Gazastreifen wieder langfristig besetzt werden? Wer soll die Kontrolle dort übernehmen? Darüber wird nicht gesprochen und es gibt öffentlich keine Planungen.

Klar ist: Ein militärischer Erfolg Israels im Gazastreifen bewirkt sicher keine De-Radikalisierung der Bevölkerung dort. Ohne Perspektiven für die Bevölkerung im Gazastreifen ist eine langfristige Befriedung und damit auch mehr Sicherheit für Israel nicht möglich. Und das müsste Teil der militärischen, aber vor allem der zivilen Planungen für den Tag danach sein.

tagesschau.de: Weil ein Mangel an Perspektive den Nährboden für eine neue Radikalisierung schafft?

Asseburg: Ja. Und das Potenzial für noch radikalere Organisationen ist durchaus gegeben. Israel hat bislang ja auch darauf gesetzt, dass die Hamas im Gazastreifen noch radikalere dschihadistische Gruppierungen unterdrückt. Das wird jetzt nicht mehr funktionieren.

Die USA und die Europäer haben sich angesichts der abscheulichen Kriegsverbrechen, die die Hamas begangen hat, hinter Israel gestellt. Aber es ist auch ihre Aufgabe, zu fragen, wie es nach dem Krieg weitergeht, wie man nachhaltig stabilisieren und Perspektiven schaffen kann, die der Hamas und anderen Radikalen den Nährboden entziehen.

"Das Leben der Zivilbevölkerung schützen"

tagesschau.de: Welche humanitären Folgen erwarten Sie - auch in der Region insgesamt?

Asseburg: Es ist ein hohes Ausmaß an zivilen Opfern im Gazastreifen zu erwarten. Die völlige Abriegelung des Gazastreifens, die die Armee jetzt verhängt hat, die Ankündigung der israelischen Regierung, keine Lebensmittel, kein Trinkwasser, keinen Strom, keinen Treibstoff reinzulassen, wird die Situation in den kommenden Tagen und Wochen extrem schwierig machen.

Hier wäre es wichtig, die UN in ihren Bemühungen zu unterstützen, humanitären Zugang zu sichern und das Leben der Zivilbevölkerung so gut wie möglich zu schützen.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 10. Oktober 2023 um 10:30 Uhr.