Untergetauchter Hamas-Chef "Sinwar weiß ganz genau, was er will"
Seit dem Massaker in Israel vom 7. Oktober führt Hamas-Chef Sinwar die Terrorgruppe aus dem Untergrund. Wo er sich aufhält, wisse "nur Gott", sagt Hamas-Funktionär Hamdan. Sinwars Ziel aber sei klar: die Zerstörung des jüdischen Staates.
Die drei wichtigsten Fragen vorweg: Hat er Kontakte zum Hamas-Chef in Gaza? "No". Kommuniziert die Hamas vom Libanon aus über Kuriere mit ihm? "No!" Ist Jahia Sinwar noch in Gaza? Osama Hamdan zeigt ein dünnlippiges Lächeln und lehnt sich in seinem Sessel zurück. "You know", sagt er, "God only knows" - niemand wisse das, nur Gott allein.
Der hochrangige Hamas-Funktionär Hamdan lebt jenseits von Gaza, im 400 Kilometer entfernten Beirut. Hamdan ist Mitglied des Politbüros der Hamas und damit eingebunden in die stockenden Verhandlungen über eine Waffenruhe in Gaza. Das Treffen mit ihm ist kurzfristig zustande gekommen, erst 15 Minuten vorher wurde uns der genaue Ort mitgeteilt. Auch hier, in der libanesischen Hauptstadt, sind die im Ausland lebenden Kader der Hamas vor israelischen Drohnen nicht sicher. "Jahia muss jederzeit damit rechnen, getötet zu werden", sagt Hamdan, "wir müssen es auch."
Kollaborateure eigenhändig ermordet
Sinwar, den seine Gesinnungsbrüder nur beim Vornamen nennen, ist seit dem 7. Oktober von der öffentlichen Bildfläche verschwunden und untergetaucht. Doch als unumstrittener Führer der Hamas im Gazastreifen spielte und spielt er im internen Machtgefüge noch immer eine entscheidende Rolle. Er kontrolliert im Untergrund die Restbestände der islamistischen Milizionäre, er hat das letzte Wort bei der Frage, ob die Hamas im ausgebombten Gazastreifen eine mögliche Waffenruhe akzeptiert oder ablehnt.
Natürlich weiß Hamdan, dass viel mehr über Sinwar bekannt ist - würde es aber niemals zugeben. Daher die bekannten Fakten zu Sinwar: 1962 in Gaza geboren. 1987 der gerade gegründeten Hamas beigetreten. 1988 von den Israelis verhaftet und zu einer viermal lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er zwei israelische Soldaten und vier palästinensische Kollaborateure angeblich eigenhändig ermordete. Na und, sagt Hamdan, es gebe nun mal ein palästinensisches Gesetz, das Kollaborateure bestraft.
Orchestrator des Terrorangriffs vom 7. Oktober
Mehr als zwei Jahrzehnte lang hat Sinwar im Gefängnis gesessen, 2011 kam er bei einem Gefangenenaustausch frei und wurde sechs Jahre später zum Führer der Hamas in Gaza ernannt. Unter ihm wurde die Hamas noch radikaler, als sie ohnehin schon war. Es war Sinwar, der in den vergangenen Jahren die Kontakte mit dem Iran intensiviert hat, die Hamas an die sogenannte "Achse des Widerstands" ankoppelte und sie von Teheran aufrüsten ließ.
"Die Zionisten in aller Welt sollen wissen: Wehe denen, die unsere Al-Aksa-Moschee antasten", sagte er bei öffentlichen Auftritten im Gazastreifen ein ums andere Mal. Und: "Netanyahu wird den Tag noch verfluchen, an dem ihn seine Mutter geboren hat."
Israels Armee hat gleich zu Beginn des Gaza-Krieges Sinwar und seine nächsten Gefolgsleute als "Dead man walking" bezeichnet, als Männer, die eigentlich schon so gut wie tot sind. Kein anderer als Sinwar habe den Terrorangriff am 7. Oktober orchestriert, erklärte der Chef des israelischen Generalstabs Herzi Halevi, man werde ihn aufspüren und töten.
Osama Hamdan, Funktionär der Terrorgruppe Hamas, über seinen Chef Sinwar: "Er kann auch offen sein, manchmal sogar witzig. Aber er weiß ganz genau, was er will."
Ziel der Hamas ist die Zerstörung des jüdischen Staates
Sieben Monate später sind laut Zahlen der von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde 35.000 Palästinenserinnen und Palästinenser Israels Kriegsführung zum Opfer gefallen. Sinwar lebt noch immer; und je länger er überlebt, um so mehr wird er in weiten Teilen der aufgebrachten arabischen Öffentlichkeit zum Mythos, zur Legende verklärt. "Er ist kein wütender Mann", sagt Hamdan. "Wenn du direkt mit ihm reden könntest, würdest du feststellen, dass er sehr ernsthaft ist. Er kann auch offen sein, manchmal sogar witzig. Aber er weiß ganz genau, was er will."
Sinwar, sagt Hamdan, wolle das Ende der Besatzung: nicht nur Ostjerusalems und der palästinensischen Westbank. Sinwar meine das Ende der Besatzung ganz Palästinas - was aus Sicht der Hamas langfristig auf die Zerstörung des jüdischen Staates hinauslaufen muss.
Amerikanische Quellen vermuten Sinwar im weit verzweigten Tunnelsystem unter Chan Yunis. Über ihm kein Palästina, sondern die ausgebombte Trümmerlandschaft von Gaza.