Explodierende Geräte im Libanon Schlag gegen ein wankendes Gesundheitssystem
Der Libanon steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise - auch medizinisches Personal hat das Land verlassen. Die Explosionen Tausender Kommunikationsgeräte verschärfen die Situation im Gesundheitsbereich.
Auf Beiruts Straßen ist es ruhiger als sonst. Es ist Freitag, für die meisten Muslime der freie Tag der Woche. Trotzdem ist spürbar, wie tief der Schock über die Explosionen in den vergangenen Tagen sitzt. Die Sorge vor einem Krieg und die Angst vor weiteren Explosionen treibt die Menschen in der libanesischen Hauptstadt um.
Fast genauso schlimm wie die physischen Verletzungen ist der psychologische Effekt der Verwundbarkeit. Das Gefühl, dass Israel alles mitbekommt und kein technisches Gerät mehr richtig sicher ist - weder Pager noch Walkie Talkie - schon gar nicht das Smartphone, vielleicht auch nicht das Babyphone zuhause.
Die ferngesteuerten Explosionen sollten offenbar Hisbollah-Kämpfer treffen, die Funkgeräte bei sich trugen und damit kommunizierten. Aber sie trafen auch Zivilisten.
"Unfaire Kriegsführung"
Ein achtjähriges Mädchen und ein elfjähriger Junge waren unter den Opfern, sagt Firas Abaid. Im Interview mit der ARD beklagt der geschäftsführende libanesische Gesundheitsminister, dass Zivilisten bei den Explosionen zu Schaden kamen.
Youssef Bakhach, plastischer Chirurg am privaten amerikanischen Universitätskrankenhaus von Beirut, spricht von einem Albtraum. Obwohl er Kriegsverletzungen gewöhnt sei, habe das alles übertroffen. In kurzer Zeit tausende Fälle von Schwerverletzen, vor allem Verbrennungen im Gesicht, Augenverletzungen, aber auch abgerissene Hände und Finger. Diese Patienten werden viele Operationen brauchen, meint Bakhach, bis man über eine Rekonstruktion sprechen könne.
Als "unfair" oder "kriminell" bezeichnen Passanten auf den Straßen die Kriegsführung der israelischen Armee. Darüber ist auch international unter Völkerrechtler schon eine kontroverse Debatte in Gange. Für Andrew Clapham von der Genfer Universität Graduate Institut besteht kein Zweifel: Ein Angriff dieser Art verstößt gegen internationales Recht.
Gesundheitssystem am Limit
Die Sorge vor einem Großangriff auf den Libanon wächst. An der Grenze zwischen Israel und Libanon - der sogenannten blauen Linie - haben sich nach Angaben der UN-Beobachtermission UNIFIL die gegenseitigen Beschüsse stark intensiviert.
Libanons geschäftsführender Gesundheitsminister Abaid sagt, man versuche, das Gesundheitssystem bestmöglich auf den Ernstfall vorzubereiten. "Aber das hier ist kein normaler Krieg. Zivilisten werden genauso angegriffen wie Kämpfer. Und das bedeutet, dass wir das Gesundheitssystem für eine andere Art von Krieg vorbereiten müssen, einen Krieg ohne Gesetze und Regeln."
Außerdem stünde das libanesische Gesundheitssystem unter Druck, fügt Abiad hinzu. Der Libanon steckt in einer tiefen finanziellen Krise. Viel medizinisches Personal habe das Land verlassen, so Abiad. Das werde jetzt - bei mehr als 3000 Verletzten - deutlich spürbar.
Hisbollah spricht von Regelbruch
Die Rede von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah ist Gesprächsthema Nummer eins. Viele Libanesinnen und Libanesen verfolgten gestern die Ansprache auf ihren Handys. Der erhebt schwere Vorwürfe. Mit dem, was passiert sei, mit den Attacken habe der Feind alle Regeln gebrochen, alle Gesetze und roten Linien.
Mit dieser Aussage trifft der Hisbollah-Chef wohl den Nerv eines ganzen Landes. Auch in einem mehrheitlich sunnitischen Viertel Beiruts ist die Solidarität mit der schiitischen Hisbollah-Miliz nach dem Angriff groß. Ein Passant meint, man müsse kämpfen und das Land zu verteidigen. "Wir haben keine Angst. Wir helfen mit allem, was wir geben können: wir spenden unser Blut, unser Geld, unsere Häuser. Sie sind gute Kämpfer."
Solidarität mit Hisbollah wächst
Die Hisbollah ist im Libanon mehr als eine Miliz, betreibt Krankenhäuser, stellt Minister, kümmert sich um Bedürftige. Sie ist dort, wo der marode libanesische Staat versagt.
Gleichzeitig bezeichnen politische Gegner im Land sie als Stellvertreter der iranischen Revolutionsgarden und sind nicht glücklich, dass sich die Hisbollah in den Gaza-Krieg zwischen Israel und der Hamas einmischt. Nach den Explosionen der vergangenen Tage scheint die Solidarität mit der Hisbollah auf den Straßen Beiruts aber zu wachsen.