Hamas-Überfall Hunderte Tote nach Angriffen auf Israel
Nach den Großangriffen der Hamas auf Israel steigt die Zahl der Toten immer weiter. Auch in der Nacht gibt es Kämpfe und Raketenangriffe. Premier Netanyahu kündigte Vergeltung an.
Nach dem überraschenden Großangriff auf Israel hat die radikal-islamische Terrororganisation Hamas im Gazastreifen den Beschuss ihres Erzfeindes in der Nacht fortgesetzt. Gegen mehrere Städte, darunter die Küstenmetropole Tel Aviv, gab es in der Nacht heftige Raketenangriffe. Die Lage im Land sei noch nicht wieder vollständig unter Kontrolle, teilte das israelische Militär mit. Im Gegenzug seien weitere Kommandozentralen der Hamas bombardiert worden. Zudem meldete Israel Beschuss aus dem benachbarten Libanon.
Bislang kamen in Israel nach Medienberichten mindestens 300 Menschen ums Leben. Rund 1.590 Menschen seien verletzt. Auf Seiten der Palästinenser im Gazastreifen wurden mindestens 232 Menschen getötet und knapp 1.700 verletzt, wie das dortige Gesundheitsministerium bekannt gab.
Hisbollah bekennt sich zu Beschuss aus Libanon
Am Morgen meldete Israel, aus dem benachbarten Libanon beschossen zu werden. Die libanesische Hisbollah-Miliz teilte mit, sie habe das von Israel besetzte Gebiet der Scheeba-Farmen an der Grenze zum Libanon mit Raketen und Artillerie angegriffen und stehe in Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Die israelische Armee nahm nach eigenen Angaben das südlibanesische Gebiet, aus dem geschossen worden sei, ebenfalls unter Beschuss.
Die sogenannten Schebaa-Farmen gehören nach Auffassung der UN zu den 1967 von Israel besetzten syrischen Gebieten. Syrien und einigen Parteien im Libanon sehen das Gebiet jedoch als libanesisches Territorium an. Die Hisbollah hatte der Hamas zuvor zu ihrem "heldenhaften, großangelegten" und "siegreichen" Einsatz gegen Israel gratuliert. Die Miliz wird vom Iran unterstützt.
Netanyahu kündigt Vergeltung an
Als Reaktion auf die palästinensischen Angriffe aus dem Gazastreifen beschloss Israel massive Schläge gegen die dort herrschende Hamas. Ziel sei es, die militärischen und administrativen Möglichkeiten der Hamas und des Islamischen Dschihad so zu zerstören, "dass sie für viele Jahre nicht mehr in der Lage und bereit sind, die Bürger Israels zu bedrohen und anzugreifen", gab das Büro von Regierungschef Benjamin Netanyahu nach einer Sitzung des Sicherheitskabinetts bekannt. Unter anderem wurde beschlossen, die Einfuhr von Strom-, Brennstoff- und Warenlieferungen in den Gazastreifen abzuschneiden.
"Wir beginnen einen langen und schwierigen Krieg, der uns durch einen mörderischen Angriff der Hamas aufgezwungen wurde", wurde Netanyahu zitiert. Die erste Phase ende jetzt mit der "Vernichtung des größten Teils der feindlichen Kräfte, die in unser Gebiet eingedrungen sind", hieß es nach der Sitzung des Sicherheitsrats. Zugleich habe man eine Offensivphase eingeleitet, die ohne Einschränkung solange fortgesetzt werde, bis die Ziele erreicht seien.
Militär spricht von "ernster Geiselnahme-Lage"
Die im Gazastreifen herrschende Terrororganisation Hamas hatte am Samstag tagsüber nach Militärangaben mehr als 3.000 Raketen auf Israel abgefeuert. Gleichzeitig drangen am Morgen bewaffnete Palästinenser über Land, See und Luft nach Israel vor.
Nach israelischen Medienberichten konnten Geiseln, die in einem Haus in Ofakim an der Grenze zum Gazastreifen festgehalten worden seien, von israelischen Soldaten befreit werden. Sie hätten das Gebäude nach stundenlangen Verhandlungen gestürmt und zehn Terroristen getötet, berichteten die Nachrichten-Website Ynet und der Sender i24NEWS. Drei israelische Soldaten seien verletzt worden.
Das Militär hatte zuvor von Verschleppungen von Israelis berichtet. Ein Militärsprecher sprach von einer "erheblichen Zahl", genaue Angaben machte Israel nicht. Die Hamas, die von der EU, USA und Israel als Terrororganisation eingestuft wird, sprach von Dutzenden Entführten.
Die israelische Marine identifizierte in den vergangenen Stunden sieben Terroristen in der Gegend des Zikim-Strandes auf israelischem Gebiet, wie das Militär erklärte. Marinesoldaten und Flugzeuge hätten das Eindringen der Terroristen in Wohngebiete verhindert. Kampfflugzeuge hätten drei operative Kommandozentralen der Hamas angegriffen, die von der Terrororganisation genutzt würden, um vom Gazastreifen aus Terroranschläge gegen Israel zu verüben.
Bundesregierung: "Lage ist unübersichtlich"
Unterdessen prüft die Bundesregierung, ob deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger betroffen sind. Man stehe mit den israelischen Behörden in engem Austausch, hieß es am Samstagabend aus dem Auswärtigen Amt. In sozialen Netzwerken kursierten unbestätigte Berichte, dass eine deutsche Staatsbürgerin unter den Entführten sei.
Derweil geht die Gewalt auch im Westjordanland weiter. Bei Zusammenstößen mit der israelischen Armee wurden am Samstag in mehreren Orten sechs Palästinenser getötet, darunter ein 13 Jahre alter Junge, wie das Gesundheitsministerium in Ramallah mitteilte. Ein weiterer Mann wurde palästinensischen Angaben zufolge nach einem versuchten Messerangriff von israelischen Soldaten erschossen.
Gespräche über Notstandsregierung
Im Hintergrund liefen unterdessen in Israel am Abend Gespräche über die Bildung einer Notstandsregierung. Regierungschef Netanyahu habe den beiden Oppositionsführern Jair Lapid und Benny Gantz den Eintritt in eine Notstandsregierung angeboten, teilte ein Sprecher von Netanyahus Likud-Partei mit.
"Netanyahu weiß, dass mit seinem derzeitigen radikalen und nicht funktionierenden Kabinett kein Krieg geführt werden kann", sagte Lapid am Abend. Auch Gantz zeigte sich für die Bildung einer Notstandsregierung bereit. Medienberichten zufolge soll ein Treffen zwischen Lapid und Gantz jedoch ohne Einigung geblieben sein.
Während Israel von vielen, vor allem westlichen Staaten, Botschaften der Solidarität erhält, lieferte Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas, der keine Kontrolle über den Gazastreifen hat, in einem Telefonat mit US-Außenminister Antony Blinken seine Erklärung für diese Eskalation: Er sagte, den Berichten zufolge, dass die Ungerechtigkeit, die den Palästinensern widerfahre, den Konflikt mit Israel zu einer Explosion treibe.
Hamas konnte Sperrungen überqueren
Am Morgen waren bewaffnete Terroristen aus Gaza in israelische Ortschaften wie die 30.000-Einwohner-Stadt Sderot eingedrungen. Wie die Militanten trotz strenger Grenzkontrollen nach Israel vordringen konnten, ist unklar. Armeesprecher Richard Hecht sagte, es seien unter anderem Gleitflieger eingesetzt worden.
Israel hat entlang der Grenze zum Gazastreifen einen massiven Zaun errichtet, der Infiltrationen verhindern soll. Er verläuft auch tief unter der Erde und ist mit Kameras, Hightechsensoren und empfindlicher Abhörtechnik ausgestattet.
Der Angriff erfolgte am jüdischen Feiertag Simchat Tora, dem letzten einer ganzen Reihe von Festen und hat Israel offenbar überrascht, was an den Beginn des Jom-Kippur-Kriegs 1973 erinnert, als Ägypten und Syrien Israel zunächst überrumpelt hatten.
Immer wieder Zusammenstöße
Die Lage in den Palästinensergebieten, besonders im besetzten Westjordanland, hatte sich zuletzt wieder zugespitzt. Seit Donnerstag waren dort vier Palästinenser bei eigenen Anschlägen oder Konfrontationen mit der israelischen Armee getötet worden.
An der Gaza-Grenze hatte es im vergangenen Monat mehrfach gewaltsame Proteste gegeben. Dabei wurden auch Sprengsätze auf Soldaten geworfen, mehrere Palästinenser wurden durch Schüsse verletzt. Die israelische Luftwaffe griff angesichts der Vorfälle mehrmals Hamas-Posten im Gazastreifen an.
Nach UN-Angaben leben im Gazastreifen mehr als zwei Millionen Menschen unter sehr schlechten Bedingungen. Die von EU, USA und Israel als Terrororganisation eingestufte Hamas hatte 2007 gewaltsam die alleinige Macht an sich gerissen. Israel verschärfte daraufhin eine Blockade des Küstengebiets, die von Ägypten mitgetragen wird.
Mit Informationen von Jan-Christoph Kitzler, Tel Aviv