Aserbaidschans Außenpolitik Machtprobe mit dem Westen
Frankreich wirft Aserbaidschan vor, die schweren Unruhen in seinem Überseegebiet Neukaledonien anzustacheln. Welches Ziel verfolgt Aserbaidschan mit dem Vorwurf des Neokolonialismus tatsächlich?
Blau-rot-grüne Flaggen Aserbaidschans mit Halbmond und Stern im französischen Überseegebiet Neukaledonien, sogar Poster mit dem Konterfei von Präsident Ilham Alijew. Was weit hergeholt erscheint, konkret 13.600 Kilometer, hat einen machtpolitischen Hintergrund.
Zu sehen waren die Fahnen und Poster bei Protesten der indigenen Bevölkerung Neukaledoniens, den Kanaken, gegen eine Wahlrechtsreform der Regierung in Paris. So sollen demnächst auch Bewohner an Provinzwahlen teilnehmen können, die erst seit zehn Jahren in Neukaledonien leben. Die Befürworter einer Unabhängigkeit von Frankreich befürchten, dass sie auf diese Weise politisch geschwächt werden. Der Nationalrat der Kanaken wirft der Regierung in Paris, sie zu benachteiligen.
Bei den schweren Unruhen, wie es sie dort seit 1988 nicht mehr gegeben hat, wurden vier Zivilisten und zwei französische Gendarmen getötet. Neben 2.700 Polizeikräften ist mittlerweile das Militär im Einsatz. Viele Urlauber mussten auf der Insel 1500 Kilometer östlich von Australien ausharren. Frankreichs Präsident Manuel Macron reiste am Dienstag dorthin, um eine politische Lösung auszuhandeln. Frankreich unterhält Militärstützpunkte auf Neukaledonien, außerdem gibt es bedeutende Nickelvorkommen.
Initiativgruppe von Baku
Dann kam Aserbaidschan ins Spiel. Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin warf der Südkaukasusrepublik vor, sich in die inneren Angelegenheiten Neukaledoniens einzumischen. Das sei Realität, sagte der Minister im Sender France 2. Er bedaure, dass "ein Teil der kaledonischen Unabhängigkeitsbewegung einen Deal mit Aserbaidschan gemacht hat".
Zu übersehen sind die Aktivitäten Aserbaidschans in der Tat nicht. Auf grünen und orangefarbenen T-Shirts der Demonstranten war über den Forderungen zur Rücknahme der Verfassungsänderung das Logo der Groupe d'Initiative de Bakou zu sehen. Diese Initiativgruppe von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, wurde im Juli 2023 gegründet.
Als eines ihrer Hauptziele gibt deren Geschäftsführer Abbas Abbasov in einem Interview mit der aserbaidschanischen Nachrichtenangetur Trend an, "den Kampf gegen Kolonialismus und Neokolonialismus" zu unterstützen. Der Fokus liegt derzeit auf Frankreich und Gebieten wie Französisch-Guayana, Französisch-Polynesien, Guadeloupe und Korsika.
Die Initiativgruppe gab mit Vertretern von angeblich 14 Unabhängigkeitsbewegungen Erklärungen zur Unterstützung des Nationalrats der Kanaken heraus und organisierte Konferenzen. Hunderte Accounts in den sozialen Medien sowie die regierungsnahen Medien in Aserbaidschan thematisieren ausführlich "Frankreichs koloniale Politik" und die Unruhen in Neukaledonien.
Bewegung der Blockfreien Staaten
Für die Regierung ist die Initiativgruppe Teil einer langfristigeren Außenpolitik. Nach Angaben Abbasows, einst hochrangiger Mitarbeiter des staatlichen Ölfonds, wurde die Initiativgruppe bei einem Treffen der Bewegung der Blockfreien Staaten gegründet. Dessen Sekretariat leitete Aserbaidschan von 2019 bis Anfang des Jahres. Die Organisation konstituierte sich 1961 und versammelte Staaten, die im Ost-West-Konflikt neutral bleiben wollten, zu denen auch viele ehemalige Kolonien in Afrika und Asien zählten, die gerade ihre Unabhängigkeit erlangt hatten.
Nach Ende des Kalten Krieges verlor die Bewegung an Bedeutung, spielt aber wieder eine Rolle bei der Positionierung des sogenannten Globalen Südens gegen den Westen. Aserbaidschan gibt auch in dieser Organisation vor, den westlichen Imperialismus zu bekämpfen.
Kein besonderes Interesse in Aserbaidschan
Doch liegt der aserbaidschanischen Führung wirklich das Schicksal der Einheimischen Neukaledoniens und anderer Gebiete Frankreichs am Herzen? Eine politische oder auch ethnische Verbindung gibt es nicht.
"Generell sind die Menschen in Aserbaidschan nicht besonders interessiert am Schicksal der Menschen in Neukaledonien oder anderen solchen Gebieten. Sie hätten Schwierigkeiten, diese auf einer Karte zu finden. Es kümmert sie einfach nicht", sagt der unabhängige Journalist Cavid Aga in Baku.
Die Medien berichteten darüber, weil die Regierung es anordne. Viele von ihnen würden direkt oder indirekt vom staatlichen Ölkonzern SOCAR finanziert. "Die Menschen trauen sich nicht einmal, die muslimischen Uiguren in China zu unterstützen.
Warum Aserbaidschan Frankreich attackiert
Was auffällt: Der Account der Initiativgruppe bei X (Twitter) wurde erst im Oktober 2023 angelegt. Zu diesem Zeitpunkt kündigte Frankreich an, seine langjährige Unterstützung für Aserbaidschans Nachbarn Armenien um militärische Hilfe zu erweitern. Dazu zählt die Lieferung von Waffen und die Ausbildung der armenischen Streitkräfte. Diese wurden beim Krieg 2020 gegen Aserbaidschan weitgehend zerstört.
Obwohl Aserbaidschans Streitkräfte dank Waffenlieferungen unter anderem aus Israel und der Türkei modernisiert und hochgerüstet sind, wirft die Führung in Baku Frankreich vor, die Lage im Südkaukasus destabilisieren und dort einen neuen Krieg heraufbeschwören zu wollen.
Echte Unterstützung und innenpolitischer Druck
Frankreich ist aus mehreren Gründen in diesem Konflikt im Südkaukasus aktiv. "Es gibt echte historische Unterstützung für Armenien. Dies gilt umso mehr, als das Land heute in seiner territorialen Integrität bedroht ist. Aserbaidschan hält noch immer 200 Quadratkilometer armenischen Territoriums völlig illegal und ohne Grund besetzt", erklärt der Journalist Régis Genté, der seit 2002 für französische Medien aus dem Südkaukasus berichtet.
Darüber hinaus gebe es innenpolitische Gründe für das Engagement, so Genté. "In einer Zeit, in der die politische Agenda von der extremen Rechten maßgeblich beeinflusst wird, spielen Einwanderung und die muslimische Welt in der Außenpolitik eine wichtige Rolle." Das habe die Regierung in Paris dazu veranlasst, bei diesem Thema eine eher anti-muslimische Haltung einzunehmen.
Genté warnt: Es sei eine gefährliche Position, die Präsidenten Aserbaidschans und dessen Verbündeten Türkei zu kritisieren und dabei zu sagen, dass man auf der Seite der "christlichen armenischen Brüder" stehe. "Um die Armenier zu verteidigen, muss man mit den Ländern sprechen, insbesondere mit der Türkei. Genau das wird in dieser Position aus Gründen der französischen Innenpolitik nicht getan."
Eigene autoritäre Politik relativieren
Dies erleichtert es der Führung in Baku, Frankreich und Europa als Feinde des Islam darzustellen und ihnen Menschenrechtsverletzungen vorzuwerfen, auch um die autoritäre Politik gegen die eigene Bevölkerung zu relativieren oder gar zu negieren - seit Herbst wurden zahlreiche Journalisten und Regierungskritiker in Haft genommen.
Bei einer Pressekonferenz mit Kanzler Olaf Scholz kürzlich in Berlin behauptete Präsident Ilham Alijew, in Aserbaidschan seien die Medien und das Internet frei. Ein mitgereister aserbaidschanischer Journalist wiederum fragte Scholz nach einem Bericht des Bundesinnenministeriums zu Muslimfeindlichkeit in Deutschland. Scholz stritt die Problematik gar nicht ab und verwies darauf, dass es ja die Bundesregierung gewesen sei, die diesen Bericht veröffentlicht habe.
Vorwand für Machtpolitik
Ob es Aserbaidschan mit den Rechten religiöser und ethnischer Minderheiten ernst meint, erscheint fraglich. Zwar betont die Führung in Baku die Toleranz insbesondere für die jüdischen Einwohner Aserbaidschans. Doch eigenständigen politischen Einfluss haben weder die ethnischen Minderheiten noch die religiösen Gemeinschaften. Zudem gibt es seit der Flucht der Armenier aus Bergkarabach im September 2023 Indizien dafür, dass deren Wahrzeichen gezielt zerstört werden sollen.
Beobachter sehen denn in der Unterstützung des sogenannten Globalen Südens gegen den Westen nur einen Vorwand, den Aserbaidschan wie auch Russland nutzen, um mit dem Schüren bestehender Konflikte Machtpolitik zu betreiben. Die Unabhängigkeitsbefürworter in Neukaledonien profitierten kaum von Aserbaidschan, sagt Genté und zitiert einen Mitarbeiter des französischen Außenministeriums mit den Worten, wonach die Diktatur Aserbaidschans letztlich wenig zu bieten habe.
Der Journalist Cavid Aga in Baku sieht ebenfalls keine wahre Solidarität Aserbaidschans für die Ureinwohner Neukaledoniens. Viele sähen es wie er: Es sei alles nur eine Show.