Interview mit Türkei-Experte Seufert "Erdogan braucht den Krach mit Europa"
Streng genommen müsste die EU schon jetzt die Beitrittsverhandlungen mit Ankara abbrechen, meint Türkei-Experte Seufert im nachtmagazin. Die verbale Eskalation sei machttaktisches Kalkül: Erst mit Erreichen seiner Ziele könne sich Präsident Erdogan wieder mäßigen.
Die scharfen Töne, mit denen Außenminister Frank-Walter Steinmeier in Ankara empfangen wurde, haben Günter Seufert nicht überrascht. Im Interview mit dem nachtmagazin sagte der Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, es sei nach den Statements der vergangenen Tage zu erwarten gewesen, "dass der Besuch sehr konfrontativ ablaufen würde."
Gründe genug für einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen
Lohnt es sich dann mit Ankara weiter im Dialog zu bleiben? Streng genommen müssten die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abgebrochen werden, konstatierte Seufert. Zumindest müssten sie ausgesetzt werden, wenn sich die Türkei - entgegen des Vertrags über die Beitrittsverhandlungen - "anhaltend, schwerwiegender Verletzungen der Werte schuldig" mache, auf denen die Europäische Union ruhe.
Steinmeier gehe aber pragmatisch vor und wolle aus nachvollziehbaren Gründen den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen, so Seufert. Dabei gehe es einerseits um die Unterstützung der türkischen Zivilgesellschaft, andererseits um die Türkei als strategischen Partner im Kampf gegen den Terror und bei der Suche nach einer Lösung im Syrien-Konflikt.
Das Kalkül von Machtmensch Erdogan
Die derzeit verfahrene Situation sei vor allem von Präsident Recep Tayyip Erdogan gewollt: "Der Präsident braucht diese Konfrontation im Land, er braucht diese Polarisierung in der türkischen Gesellschaft. Und er braucht auch den Krach mit Europa, um seine Wähler bei der Stange zu halten", so Seufert. Es gehe Erdogan um eine Einheit "gegen einen gedachten, vielleicht phantasierten Feind, der die Türkei von innen und außen bedroht."
Doch diese Haltung des Machtmenschen Erdogan muss nicht von Dauer sein. Seubert vermutet: "Sobald er dann das Präsidialsystem hat und sicher im Sattel sitzt, kann er wieder eine gemäßigte Politik fahren."