Konflikt um Grenzgebiet Venezuela will Region Guyanas annektieren
Die Venezolaner haben abgestimmt: Eine große Mehrheit fordert einen neuen venezolanischen Bundesstaat in der Region Essequibo. Doch die gehört seit Jahrhunderten zum Nachbarstaat Guyana. Ein alter Grenzstreit flammt wieder auf.
"Guyana ist mein Zuhause, alles, was ich je gekannt habe. Venezuela wird nie gewinnen", rezitiert eine Zehntklässlerin und erntet großen Applaus von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern für das emotionale Gedicht.
Es ist kein regulärer Schultag in Guyana, sondern ein von der Regierung verordnetes Awareness Event, das zeitgleich an allen Schulen des Landes stattfindet. Also eine von vielen Veranstaltungen, die Aufmerksamkeit schaffen sollen - für das guyanische Essequibo-Gebiet, das Venezuela annektieren möchte.
Venezuelas Präsident Nicolas Maduro feierte das Ergebnis des Referendums vor Hunderten Anhängern auf der Plaza Bolívar in der Hauptstadt Caracas. Knapp 96 Prozent der Wähler hatten sich für den Anspruch Venezuelas auf die Region Essequibo im Nachbarland Guyana ausgesprochen.
Angst und Unsicherheit
Das Essequibo-Gebiet ist größer als Griechenland. Essequibo macht zwei Drittel der Fläche Guyanas aus und besteht überwiegend aus Regenwald und Savanne. Die Mehrheit der Essequibo-Bevölkerung ist indigen und kann sich nicht vorstellen, zu einem anderen Land als zu Guyana zu gehören.
So auch Sharla, eine Unternehmerin und Mutter von vier Kindern, die in der Kleinstadt Lethem lebt, im Süden des Landes, an der brasilianischen Grenze. "Im Moment bin ich sehr angespannt als Elternteil. Wir wissen nicht, was ab dem 4. Dezember passieren wird", sagt sie. Ihre Kinder hätten große Angst. "Meine 7-jährige Tochter hat in der Schule aufgeschnappt, dass es einen Krieg geben wird. Und sie hat gesagt, dann möchte ich als erstes sterben. Weil sie nicht miterleben will, was dann passieren wird."
Ein alter Konflikt
Der Konflikt ist jahrhundertealt und wurde schon zwischen den damaligen Kolonialmächten Spanien, Niederlande und Großbritannien ausgetragen. 1899 urteilte ein internationales Schiedsgericht: Essequibo gehört zur Kolonie Britisch-Guayana. Venezuela hatte dies zunächst akzeptiert. Doch seit den 1960er-Jahren schwelt der Grenzstreit wieder.
Genauso ist auch die inoffizielle Hymne Guyanas "Not A Blade Of Grass" jahrzehntealt - und wieder brandaktuell. "Wir geben keine Berge ab, keinen Fluss, noch nicht mal einen Grashalm" schallt es auf den Straßen, aus dem Bürofernseher, aus Autoradios und Smartphone-Lautsprechern.
2015 hatte sich Venezuelas Interesse an Guayana Essequiba, so der spanische Name, verstärkt. In dem Jahr fand das US-amerikanische Unternehmen ExxonMobil dort Öl vor der Küste.
Internationaler Gerichtshof soll Klarheit bringen
Guyana will Klarheit und eine endgültige Grenzziehung von 1899. Das Land hofft auf ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Dieses steht noch aus. Doch am 1. Dezember 2023, zwei Tage vor dem Referendum bestätigt der UN-Gerichtshof: Venezuela soll jegliche Handlungen unterlassen, die den Status quo ändern würden, bis es eine finale Rechtsprechung des Gerichtes gibt.
Carl Greenidge, der Guyana in der Sache vertritt, sieht das als Erfolg: "Das Gericht hat mit einem einstimmigen Urteil auf Guyanas Antrag reagiert", sagt er. Was als nächstes passiert, wisse er allerdings nicht. "Venezuela ist ein Land, das sehr unberechenbar ist. Aber ich weiß, dass Guyana alle Vorsichtsmaßnahmen treffen muss, um nationale Interessen zu schützen."
"Unser Land will gegen niemanden kämpfen"
Doch wie soll das gehen in dem Land, dass zu den ärmsten Südamerikas gehört und keine Verteidigungserfahrung hat? Als friedliches Volk bezeichnen sich die Menschen. So auch Taxifahrer Gemil aus der Hafenstadt Parika: "Unser Land will gegen niemanden kämpfen." Sie hätten auch nicht die Mittel, um sich Waffen zu beschaffen, sagt er.
Den Menschen in Guyana ist klar, dass sie gegen das venezolanische Militär keine Chance hätten. Sie zählen auf internationale Unterstützung, vor allem von den USA und Brasilien. Und: aufs Beten. So finden in ganz Guyana gemeinsame religionsübergreifende Gebetsveranstaltungen statt. In dem Land, in dem Christen, Hindus und Muslime friedlich zusammenleben.