US-Abtreibungsrecht "Jüdische Frauen geraten nicht in Konflikt"
Die US-Debatte über das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche ist stark religiös aufgeladen - durch evangelikale Christen. In New Yorks jüdischer Gemeinde hingegen treten viele für den Erhalt von "Roe vs Wade" ein.
Mit den Füßen beten - so nennt Sarah Seltzer es, wenn sie für das Abtreibungsrecht demonstriert. "Wir haben diese sehr starke Verbindung von unserer jüdischen Religion zu unserer Identität und unseren sozialen Werten", sagt sie. Die Chefredakteurin des jüdischen Frauenmagazins "Lilith" erinnert sich noch daran, wie ihre Mutter vor Jahrzehnten zu solchen Demos ging - mit einem Schild: "Jedes Kind ein gewolltes Kind." Heute chartert Seltzers New Yorker Synagoge Busse, um Frauen bei solchen Protesten zu unterstützen.
Das sei keine Ausnahme, sagt Seltzer. Drei Viertel der jüdischen Wähler wollen nach Umfragen des Jewish Electorate Institutes das Recht auf Schwangerschaftsabbruch erhalten. Abtreibung ist für sie ein jüdisches Thema. Eines, bei dem es mehr um religiöse Freiheit geht als um persönliche, sagt die liberale Jüdin Seltzer: "Nach der jüdischen Lehre steht das Wohl der Frau an erster Stelle, wenn die Schwangerschaft ihre Gesundheit bedroht - und das schließt die psychische Gesundheit ein. Wenn Abtreibungen also verboten werden, dann macht es das Juden schwerer, ihren Glauben zu praktizieren und ihrer Doktrin zu folgen."
Die Kernfrage: Welches Leben zählt mehr?
Danach sei ein Schwangerschaftsabbruch nicht nur in bestimmten Situationen erlaubt - er sei sogar geboten, wenn es um das Wohl der Schwangeren geht. "Diese Entscheidung ist eine für das Leben und nicht dagegen. Es ist nur die Frage: Welches Leben zählt mehr?", sagt sie.
Das der Frau - so sagt es die jüdische Religion. Doch gerade bei der Auslegung des Religionsrechts, der Halacha, gehen die Meinungen auseinander. So äußerte sich die Internationale Vereinigung Konservativer Rabbiner, Rabbinical Assembly, in New York besorgt über die mutmaßlichen Pläne des Obersten Gerichts. Jüdische Tradition ehre die Heiligkeit des Lebens - auch des ungeborenen. Doch die Vereinigung glaube nicht, das die Existenz als Person mit der Empfängnis beginnt.
Anders sieht es der ultra-orthodoxe Rabbi Avi Shafran. Im Judentum gebe es nicht das Konzept der Wahl, sondern nur das von richtig und falsch. Und Abtreibung sei falsch: "Meine Gemeinde ist dagegen. Aus legalem Grund, weil es ein Recht kreiert, dass es in der Verfassung nicht gibt. Aber auch, weil es die Bedeutung des sich entwickelnden Lebens abwertet", sagt er.
Jüdinnen sollen selbst entscheiden
Rabbi Shafran vertritt die orthodoxen Juden auch in der Organisation Agudath Israel of America. Seine Gemeinde sehe alles mit den Augen des jüdischen Religionsgesetzes, sagt er: "Und deshalb ist Abtreibung etwas, das um jeden Preis vermieden werden muss - wenn nicht das Leben der Mutter unmittelbar in Gefahr ist." Auch die Frauen in seiner orthodoxen Gemeinde sähen das so: Niemand habe das Recht zu wählen. Das jüdische Religionsrecht lege das ganz klar fest.
Doch Ephraim Sherman sieht das anders. Auch er ist ultraorthodox. Der chassidische Jude arbeitet als Krankenpfleger in der Bundesstaaten-Hauptstadt Albany. "Das Judentum hat eine alte Geschichte der Abtreibung. Es unterstützt ausdrücklich, dass Schwangere Zugang dazu haben" - und zwar seit Tausenden von Jahren, sagt er. Dass es der Frau gutgehe, sei ein ur-religiöser Grund, sagt Sherman. Darin unterscheide sich sein Glaube von dem strenggläubiger Christen.
Doch auch in seinem Glauben gebe es Frauen, die das verneinten - nicht aus Religiosität, sondern aus tief-konservativer Überzeugung. Gerade schockierte Sherman ein Fall: eine Frau, bei der kurz nach Beginn ihrer Schwangerschaft Schilddrüsenkrebs diagnostiziert wurde. Mit dem Kind im Bauch konnte sie nicht behandelt werden. Doch sie behielt es und ergab sich ihrer Krebskrankheit.
Für Krankenpfleger Sherman war die Entscheidung nicht nachvollziehbar. "Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen ist sonst in jeder Sekunde alles durchzogen von jüdischer Lehre und Spiritualität", sagt er. "Und dass sie gerade in dieser großen Frage anders entschieden hat, zeigt für mich, dass sie mehr von der US-Politik beeinflusst war. Glauben Sie mir: Im jüdischen Kontext ist so eine Entscheidung sehr sonderbar."