Waffengewalt in den USA Ein "mass shooting" pro Tag
Knapp 20.000 Menschen starben 2020 in den USA durch eine Kugel. Schusswaffen sind leicht zu kaufen, die meisten Politiker stellen sich gegen eine härtere Regulierung - auch in der Ära Biden aus gutem Grund.
Der 16-Jährige Kassius-Kohn Glay wurde vergangene Woche tot in einem zu Schrott gefahrenen Auto gefunden: erschossen, mitten in Washington - der vierte getötete Jugendliche seit Jahresbeginn in der US-Hauptstadt mit ihren 700.000 Einwohnern. 198 Morde hatte die Stadt vergangenes Jahr zu beklagen, darunter elf an Jugendlichen, die meisten mit Schusswaffen. Verglichen mit anderen US-Städten ist das nicht außergewöhnlich. Für Schlagzeilen sorgen nur noch Vorfälle mit besonders vielen Toten oder Amokläufe in Schulen. Nach den Toten von Atlanta, Boulder und anderen Orten gibt es einen Aufschrei, eine kurzen, fast rituell gewordenen, politischen Schlagabtausch, bevor alle wieder zur Tagesordnung übergehen.
Seit US-Präsident Joe Bidens Amtseinführung gab es landesweit mehr als 140 sogenannte "mass shootings" in den USA - Vorfälle, bei denen jemand seine Schusswaffe einsetzte und mindestens vier Menschen verletzt wurden oder starben. Was mehr als einmal am Tag passiert, ist vielerort nicht mehr als eine kurze Nachricht im Lokalteil.
"Geisterpistolen" ohne Registrierung
Knapp 20.000 Menschen starben in den USA 2020 durch eine Kugel: ermordet, bei Festnahmen, Unfällen und nicht zuletzt Suiziden. Biden nennt Waffengewalt in den USA eine "Seuche" und verspricht zu handeln. Wirklich machen kann er aber wenig und seine präsidialen Verordnungen für mehr Kontrolle von Waffenbesitz lesen sich eher hilflos: Bessere Kontrolle von "Geisterpistolen" - das sind Bausätze ohne Registriernummer. Ein Verbot von Aufsätzen, die halbautomatische zu automatischen Waffen machen. Familienmitglieder sollen zukünftig warnen und durch ein Gericht verbieten lassen dürfen, wenn jemand in einer emotionalen Krise eine Waffe kaufen will. Zusätzlich: Aufklärungsprogramme in sozialen Brennpunkten und ein jährlicher Bericht über illegalen Waffenhandel.
Der zweite Zusatzartikel zur Verfassung gibt US-Bürgern ausdrücklich das Recht auf Waffenbesitz. Vor jeder Wahl wird darüber gestritten, machen Waffenlobbyisten genauso wie Waffengegner dies zur Gretchenfrage für Kandidaten: "Wie hältst du es mit unserem Freiheitsrecht auf Waffen?" In einer Studie des Pew Research Center wird deutlich, dass Waffenbesitzer dieses Recht gleichstellen mit Redefreiheit, Pressefreiheit oder Religionsfreiheit. 30 Prozent aller US-Bürger besitzen eine Schusswaffe, bei weißen Männern ist es die Hälfte, unter nicht-weißen Männern und Frauen insgesamt ein Viertel.
Welche Kontrolle es über Waffenbesitz gibt, entscheiden die Bundesstaaten, nicht die Bundesregierung in Washington. Meistens reicht ein Führerschein als Ausweis und ein kurzer Blick des Verkäufers ins Polizeiregister, dann kann man seine Pistole oder ein halbautomatisches Gewehr mit nach Hause nehmen.
Nachfrage nach Waffen ebbt nicht ab
Das Jahr 2020 war ein absolutes Rekordjahr für den US-Waffenhandel: Knapp 40 Millionen Anfragen im Polizeiregister, um eine Schusswaffe zu kaufen - das sind ein Drittel mehr als im Vorjahr. Teilweise war Munition ausverkauft, gab es Lieferfristen für besonders populäre Modelle. Angst, dass es während der Pandemie zu Aufständen oder Kampf um Lebensmittel kommen könnte, gilt als ein Motiv.
Dann kamen die Ausschreitungen am Rande der "Black Lives Matter"-Proteste und schließlich die Sorge, dass ein demokratischer Sieg bei der Präsidentschaftswahl zu mehr Waffenkontrolle führen könnte - viele Republikaner wollten sich rechtzeitig eindecken. Früher ließ die Waffen-Nachfrage nach Wahlen schnell nach, diesmal nicht: Allein im Januar wurden in den USA mehr als vier Millionen Schusswaffen verkauft.
Ein Register, aus dem man erfährt, wem welche Waffe gehört, gibt es nicht - viele sehen darin bereits einen unzulässigen staatlichen Eingriff in die Freiheitsrechte. "Wenn der Staat dir sagt, dass du keine Waffe benötigst, spätestens dann brauchst du eine", ist so ein Slogan. Ein anderer: "Wenn Sekunden zählen, ist die Polizei Minuten entfernt" - gemeint ist, dass man sich im Notfall selbst schützen können müsse.
Unterstützung für strengere Waffengesetze findet man in der urbanen Gesellschaft - bei Menschen, für die Waffen keine Alltagsbedeutung haben. Auf dem Land aber ist das anders: 90 Prozent der Frauen mit einer Pistole haben sie mit dem erklärten Ziel, sich selbst verteidigen zu können. Für Männer auf dem Land sind Waffen Teil ihrer Freizeitkultur: Sie treffen sich, um auf Dosen und Zielscheiben zu schießen oder um zu jagen. Wenn die Eltern Waffen haben, schießen Jungen in den USA durchschnittlich mit zwölf Jahren zum ersten Mal damit, Mädchen mit 17.
Das Momentum der Parkland-Proteste ist ausgelaufen
Die Mehrheit der Besitzer geht verantwortungsvoll mit ihren Waffen um - und auch Wähler der Demokraten sehen oft nicht ein, dass ihnen wegen der Minderzahl, die verantwortungslos und kriminell mit den Waffen handelt, ihr Recht genommen werden soll. Viele sehen in dem Vorstoß einen weiteren Beweis dafür, wie ihnen eine selbsternannte städtische Elite ihre Traditionen und ihre kernamerikanische Kultur nehmen wolle und sie als rückständige Hinterwäldler diffamiere. Das sind genau die Leute, die Donald Trump für sich gewinnen konnte und die Demokraten nicht ein weiteres Mal verlieren wollen.
Nach dem Tod von 17 Menschen bei einer Highschool-Schießerei in Parkland in Florida schien es im Jahr 2018 für einen Augenblick so, als sei das Fass übergelaufen: Demonstrationen gegen Waffengewalt und für mehr Kontrolle schwappten in viele Städte des Landes. Mit Emma Gonzales und David Hogg, beide Überlebende des Massakers, gab es plötzlich charismatische und lautstarke Aushängeschilder einer stärker werdenden Bewegung für Waffenkontrolle - auch die beschränkte sich allerdings auf die Städte, konnte nie aufs Kernland übergreifen.
Heute ist es um sie still geworden - sie sind noch aktiv, aber die breite Wirkung hat sich verloren. 2022 stehen wieder Kongresswahlen in den USA an. "Wie hältst du es mit der Freiheit eine Waffe zu besitzen?", wird zur Gretchenfrage an alle Kandidaten werden. Die allermeisten Politiker, auch die Demokraten, werden sich zu diesem Recht bekennen - selbst dann, wenn sie Waffengewalt entschieden verurteilen.