Staatskrise in Peru Aufstand der Abgehängten
Ein Ende der Staatskrise in Peru ist nicht in Sicht. Die zunehmend wütende arme Landbevölkerung fordert Neuwahlen und eine neue Verfassung, doch das scheint im zerstrittenen Land weiter völlig unrealistisch.
Sie sind martialisch ausgerüstet, mit Schutzschild und Knüppel: Polizisten versperren jedem, der den San-Martin-Platz in Lima betreten will, den Weg. So wie hier haben Sicherheitskräfte überall im Zentrum der peruanischen Hauptstadt öffentliche Plätze abgesperrt, um dafür zu sorgen, dass sich die Ereignisse der vergangenen Wochen nicht wiederholen.
Bei Protesten Ende Januar wurde ein Peruaner durch eine Gaskartusche der Polizei tödlich getroffen. Er hatte, wie viele andere, den Rücktritt der Interimspräsidentin Dina Boluarte und Neuwahlen gefordert. Mehr als 50 Menschen kamen bei den Protesten bislang ums Leben.
Wut auf dem Land
Nach Angaben von Amnesty International gehen die meisten Toten auf das Konto der Sicherheitskräfte. Diese hätten in "mindestens zwölf Fällen scharf auf Protestierende geschossen und exzessive Gewalt vor allem gegen Bauern und Indigene angewendet", erklärt die Peru-Direktorin Marina Navarro. Seit Dezember entlädt sich in Peru eine Wut, die sich vor allem bei der ärmeren Landbevölkerung über Jahre angestaut hat.
"Die Regierung hilft uns Bauern nicht", erklärt der 75-jährige Luciano Quispe, während er seinen Kühen Futter in den Trog schüttet. "Stattdessen gibt sie ausländischen Konzernen großzügige Minenkonzessionen und stopft sich selbst die Taschen voll." Die Wut und das Misstrauen gegenüber der Politik-Elite in Lima sitzt tief bei Quispe, dem früheren Direktor der Schule seines Andendorfes Matucana.
Castillo einst Hoffnungsträger
Quispes Hoffnungen hatten bis vor Kurzem auf einem anderen Dorfschullehrer geruht: Pedro Castillo, Perus linkem Ex-Präsidenten, der ursprünglich angetreten war, um mehr für den ländlichen Raum und dessen meist arme Bewohner zu tun.
Doch Castillo tat sich schwer, politische Mehrheiten zu finden und sah sich zudem Korruptionsvorwürfen ausgesetzt. Als er im Dezember den Kongress auflösen wollte, setzten ihn die Parlamentarier wegen "moralischer Unfähigkeit" ab.
Eine Reihe gescheiterter Präsidenten
Peru gilt als politisch äußerst instabil, selbst für südamerikanische Verhältnisse. Castillo ist nur der jüngste Fall einer Reihe von gescheiterten Staatschefs. In der Galerie des Präsidentenpalastes reihen sich inzwischen die Ölgemälde zahlreicher Kurzzeit-Präsidenten aneinander. Allein in den letzten fünf Jahren wurden fünf verschiedene Präsidenten vereidigt.
Alle, die das Amt seit den 1990er-Jahren innehatten, waren danach in Skandale und Korruptionsvorwürfe verwickelt. Die Ex-Präsidenten, die noch leben, sitzen entweder im Gefängnis, stehen unter Hausarrest, befinden sich in Untersuchungsverfahren oder haben sich ins Ausland abgesetzt. Dies zeigt, wie dysfunktional und verwundbar die peruanische Demokratie ist.
Gewalttätige Vergangenheit
Selbst erfahrene politische Beobachter tun sich schwer damit, eindeutige Gründe für die politische Dauerkrise zu finden. Fakt ist: Peru hat eine gewalttätige Vergangenheit. Die 1980er- und 1990er-Jahre waren geprägt von einem bewaffneten Konflikt zwischen der Regierung und linken Guerilla-Gruppen. Beide Seiten verübten brutale Gewaltverbrechen, vor allem an der indigenen Landbevölkerung. Insgesamt kamen rund 70.000 Menschen ums Leben.
Das Ende des Konflikts wird in der Regel mit Ex-Präsident Alberto Fujimori in Verbindung gebracht, der das Land bis 2000 regierte. Er wird von seinen Anhängern bis heute als Friedensbringer gefeiert. Gleichzeitig hat er dem Land ein schwieriges Erbe hinterlassen. 1992 löste er das Parlament auf und regierte anschließend autoritär.
Auch Castillo hat im Dezember vergeblich einen solchen "Selbst-Putsch" versucht. Die Folge waren monatelange Proteste, die Perus tieferliegende Probleme zu Tage treten lassen: die extreme Ungleichheit zwischen Stadt- und Landbevölkerung und die Benachteiligung der Nachfahren von Sklaven, Einwanderern und Indigenen.
Dauerkonflikt zwischen Regierung und Legislative
Wirtschaftlich lebt Peru vor allem von der Ausbeutung seiner reichen Bodenschätze, die allerdings oft mit Umweltverschmutzung einhergeht und der lokalen Bevölkerung kaum Wohlstand bringt. Der frühere Lehrer Quispe fordert deshalb eine neue Verfassung, weil es "so mit Peru nicht weitergehen darf".
Er meint die allgemeine politische Instabilität, wo der Kongress derart mächtig ist, dass er den Präsidenten bereits aufgrund "moralischer Unfähigkeit" absetzen kann. Dies ist im Vergleich zu anderen Demokratien sehr ungewöhnlich. Weil der Präsident wiederum den Kongress auflösen kann, kommt es in Peru häufig zu einem politischen Patt, einem Dauerkonflikt zwischen Regierung und gesetzgebender Gewalt.
Diese politische Selbstbeschäftigung führt dazu, dass viele Peruaner das Vertrauen in das politische System verloren haben. Gleichzeitig bezeichneten manche Parlamentarier die Demonstranten als "Terroristen".
"Dabei fordern diese Menschen nur mehr Teilhabe am Wohlstand in Peru, also bessere Bildung und Gesundheitsversorgung", erklärt José Incio, Sozialwissenschaftler an der Katholischen Universität von Lima. Incio geht davon aus, dass die Proteste in Zukunft immer wieder aufflammen werden, wenn Peru seine strukturellen Probleme nicht löse.
Ein neuer verfassungsgebender Prozess könnte dafür sorgen, dass der soziale Frieden wieder hergestellt wird - auch wenn dies im politisch zerstrittenen Peru derzeit unrealistisch erscheint.