Dürre im Amazonas Regenwald ohne Regen
Das wasserreichste Gebiet der Erde erlebt die schlimmste Trockenheit seit Beginn der Aufzeichnungen. Ökologen warnen, dass der Amazonas austrocknen könnte - und dann selbst zur Gefahr für das Weltklima würde.
Wenn Elisângela Santos vom Rio Tucumâ-Açu spricht, einem Nebenarm des Amazonas, an dem sie aufgewachsen ist, breit wie ein See und von Regenwald gesäumt, dann schließt sie die Augen und atmet tief ein: "Dieser Fluss gibt mir das Gefühl von Freiheit, er gibt mir Energie, es ist mein Ort des Friedens. Hier habe ich das Gefühl, dass ich mit Gott verbunden bin."
Deswegen hat sie das gesamte Ersparte in ein "Flutuante" investiert, ein Hausfloß, das sie an Touristen vermietet. Doch wenn Santos nun die Augen öffnet, blickt sie auf ein Tal voll sandiger und zerfurchter Erde. Der Fluss ist weg. Und ihr Hausboot gestrandet auf dem lehmigen Grund. Denn der Amazonas erlebt eine Jahrhundertdürre.
"Es ist hart, es ist erschütternd", sagt Santos. "Jedes Jahr gibt es eine Trockenzeit, aber so etwas haben wir noch nie erlebt. Hier leben 250 Familien, mehr als 10.000 Leute arbeiten hier im Tourismus, aber jetzt steht alles still."
Pegelstand um 17 Meter gesunken
Das wasserreichste Gebiet der Erde erlebt die schlimmste Trockenheit seit Beginn der Aufzeichnungen vor 120 Jahren, bestätigt André Martinelli, Chef-Hydrologe für den Amazonas beim Geologischen Dienst Brasiliens. Um ganze 17 Meter ist der Pegelstand des Amazonas gesunken.
Die beiden mächtigen Flüsse, die in der brasilianischen Metropole Manaus zum Amazonas zusammenfließen, führen nur ein Sechstel der Wassermenge im Vergleich zum Juli, erklärt Martinelli und zeigt auf einen dunklen Fleck weit oben an der Kaimauer. Er selbst steht auf einem breiten Sandstreifen im Hafenbecken, die zwei- bis dreistöckigen Passagierdampfer, die hier sonst ablegen, liegen auf Grund.
"Der Fluss bestimmt unser Leben hier, alles läuft über das Wasser. Nun mussten Fabriken ihre Produktion einstellen, weil die Zulieferer nicht mehr ankommen", beschreibt Martinelli die Situation. "Dutzende Gemeinden sind von der Außenwelt abgeschnitten und durch steigende Wassertemperaturen sind Tausende Fische und mehr als 100 Flussdelfine verendet. Die Dürre hat enorme wirtschaftliche und soziale Auswirkungen."
"Es gibt keine Fische mehr"
Bohnen, Reis, Nudeln, Zucker: Knapp Tausend Essenspakete, dazu große Kanister mit Wasser verteilt die Zivilschutzbehörde der Gemeinde Careiro da Várzea an einem Tag per Boot. Es sind Hilfslieferungen für die kleinen Siedlungen der Flussbewohner gegenüber von Manaus, die von Ackerbau und Fischfang leben.
Kelsima Oliveira wartet gemeinsam mit rund 100 Familien und ihrem dreijährigen Sohn in einer langen Schlange. "Wir haben seit drei Monaten kein Leitungswasser mehr, nur Wasser, das wir aus dem Fluss schöpfen, aber der ist weit weg", sagt sie. "Es gibt keine Fische mehr. Und unsere Pflanzen, unser Gemüse, das wir angebaut haben, ist verdorrt."
Früher mit dem Kanu, heute zu Fuß
Oliveira ist im siebten Monat schwanger, doch zur Untersuchung war sie seit Wochen nicht. Zu anstrengend ist die Reise zum Arzt: Früher kam sie mit dem Kanu über Nebenflüsse zum Hafen am Amazonas. Doch wo einst Wasser war, ist heute nur noch Matsch.
Für die Lebensmittellieferung musste sie anderthalb Stunden zu Fuß gehen, unter brennender Sonne. Nun hieven Nachbarn die 23 Kilo schweren Hilfspakete auf einen dreirädrigen Lieferkarren, der immer wieder im tiefen Sand stecken bleibt.
Trocknet der Amazonas aus?
Wissenschaftler wie der im Amazonas lebende US-amerikanische Biologe Philipp Fearnside sagen, dass das Klimaphänomen El Niño derzeit die übliche Trockenzeit verstärke. Die Folgen allerdings würden durch den menschengemachten Klimawandel verschlimmert, extreme Wetterphänomene treten immer häufiger auf, so Fearnside: "Seit 1975 hat sich etwas im Klimasystem verändert: El Niño trat seitdem häufiger auf. Wir müssen damit rechnen, dass wir in Zukunft immer mehr und schlimmere Dürren erleben werden."
Fearnside lebt seit Ende der 1970er-Jahre im Amazonas und forscht zum Klimawandel. Schon im Jahr 2000 warnte der Ökologe davor, dass der größte Regenwald der Erde immer weiter austrocknen könnte. Die sogenannte grüne Lunge würde damit selbst zur Gefahr für das Weltklima, so Fearnside.
"Dürren und Waldbrände lassen den Wald schneller sterben als Abholzung. Und im Regenwald und seinem Boden sind Unmengen Kohlenstoff gebunden", erklärt Fearnside. "Wenn in den nächsten Jahren auch nur ein Bruchteil davon in die Atmosphäre gelangt, wäre das ein entscheidendes Element, das zum Überschreiten eines Kipppunktes führt, an dem die globale Erwärmung außer Kontrolle gerät."
Hoffen auf das Wasser
Elisângela Santos beobachtet auf der Terrasse ihres Hausfloßes den Sonnenuntergang, der sich in kleinen Matschpfützen spiegelt. "Wir leiden sehr unter der Situation", sagt sie. "Warum wird so viel abgeholzt? Warum tun die Menschen nicht mehr dagegen? Wenn der Amazonas nicht mehr grün ist, wird es keinen Amazonas mehr geben."
Dann zeigt sie auf ein kleines Rinnsal. "Das Wasser kommt zurück", sagt sie mit Hoffnung in der Stimme. Sie hofft, dass ihr Floß an Weihnachten wieder auf dem Wasser schwimmt - bis zur nächsten Trockenperiode.