Jahrestag der Krawalle in Brasilien Aufarbeitung eines Putschversuchs
Vor einem Jahr haben Anhänger des abgewählten Präsidenten Bolsonaro den brasilianischen Kongress gestürmt. Seitdem kommt die politische und juristische Aufarbeitung der Ereignisse voran - aber es bleiben offene Fragen.
Sie zerschlugen Scheiben, zertrümmerten Möbel und Kunstwerke, urinierten auf Teppiche, schlugen Polizisten und Journalisten, legten Brände - und sahen dabei aus wie Fußball-Hooligans. Denn das gelbe Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft hatten die Anhänger des abgewählten Präsidenten Jair Messias Bolsonaro schon lange zu ihrem Erkennungszeichen gemacht.
Acht Tage nach Amtsantritt seines Nachfolgers Lula da Silva stürmten die sogenannten Bolsonaristas am 8. Januar vergangenen Jahres die Machtzentrale in Brasilia. Sicherheitskräfte verhafteten in den folgenden Tagen rund 1.500 Teilnehmer dieses Putschversuches, darunter Ex-Minister und hohe Regierungsbeamte.
Putschversuch von oben
Dass es tatsächlich ein Putschversuch war, stellte Monate später eine parlamentarische Untersuchungskommission fest und benannte den Hauptverantwortlichen: Bolsonaro.
"Es ist allgemein bekannt, dass er nie Sympathie für republikanische und demokratische Prinzipien hatte", sagte die Senatorin und Berichterstatterin Eliziane Gama bei der Vorstellung des Abschlussberichtes im Oktober. Bolsonaro habe vom ersten Tag seiner Amtszeit an die staatlichen Institutionen angegriffen, "insbesondere diejenigen, die seinem Machtwillen in irgendeiner Weise im Wege standen".
Offene Fragen nach Hintermännern
Die politische Aufarbeitung des "Vandalismus", wie der amtierende Präsident Lula da Silva die Ereignisse nannte, war vergleichsweise schnell. Für die gesellschaftlichen Hintergründe, die dazu führten, gelte das nicht, meint der Politikwissenschaftler Guilherme Casarões, vom renommierten Think Tank der Getulio Vargas-Stiftung in Rio de Janeiro. Er sieht in dem versuchten Staatsstreich den Höhepunkt einer langen Entwicklung. "Manche setzten den Beginn dieser Entwicklung mit dem Amtsantritt Bolsonaros gleich, andere mit dessen Versuch, die Legitimität der elektronischen Wahlurnen anzuzweifeln."
Noch nicht aufgeklärt sei aber, welche Personen oder Gruppierungen langfristig versuchten die Demokratie in Brasilien zu untergraben. Casarões verweist auf Ermittlungen gegen frühere Berater Bolsonaros und hohe Sicherheitsbeamte. Auch die Rolle von einigen Regionalregierungen sei noch nicht geklärt.
Christlicher Nationalismus als Triebfeder
Die Bilder von Brasilia erinnerten unmittelbar an die vom Sturm auf das Kapitol in Washington, zwei Jahre zuvor. Auch die Weltbilder der jeweiligen Akteure ähnelten einander, meint Casarões: "Was wir als Bolsonarismus bezeichnen, ist in Wirklichkeit ein Zusammenschluss von Gruppen, die sehr unterschiedlich sind, ein sehr heterogener Zusammenschluss in Bezug auf Ideologie und Aktionsmethoden."
Es sei schwierig, die anderen in Brasilien aktiven extremistischen Strömungen zuzuordnen, etwa den Neonazis oder weißen Rassisten. Er selber spreche von "christlichem Suprematismus". Die Religion als Bedingung für die Zugehörigkeit zur brasilianischen Nationalität zu sehen, habe die Bolsonaro-Bewegung zusammengehalten. Der 8. Januar 2023 sei gleichzeitig Fortsetzung und Höhepunkt dieser Entwicklung, die die Demokratie in Brasilien zu untergraben versuche, meint Casarões, der sich auch bei der 2020 gegründeten Beobachtungsstelle für rechtsextremistische Strömungen "Observatório da Extrema Direita" engagiert.
Die Entwicklung in Brasilien sei eng an den Erfolg des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trumps geknüpft, aber die Personen dahinter hätten auch Verbindungen zu Extremisten in Argentinien, Chile, Spanien. Auch gebe es über Sven von Storch, den Ehemann der AfD-Bundestagsabgeordneten Beatrix von Storch, persönliche Verbindungen in dieses Milieu in Deutschland, meint Casarões, das "mit dieser ultrakatholischen, ultrachristlichen Bewegung mit rechtsextremen Tendenzen verbunden ist."
Bolsonaro bleibt auf der Reservebank
In Brasilien ist diese Bewegung nach wie vor stark. Aber es gibt einen bedeutenden Unterschied zur derzeitigen Lage in den USA: Anders als Trump, kann Bolsonaro so schnell nicht wieder zurückkehren. Denn im Juni entzog ihm das Oberste Wahlgericht Brasiliens für acht Jahre das passive Wahlrecht. Weitere Verfahren gegen ihn stehen an.
Ein Jahr nach dem gescheiterten Putschversuch wurden in 30 Urteilen Haftstrafen von bis zu 17 Jahren verhängt, 29 weitere Hauptverfahren wurden im Dezember gerade eröffnet. Am heutigen Jahrestag will der amtierende Präsident Lula da Silva zusammen mit 500 geladenen Gästen aus Politik und Gesellschaft in Brasilia den 8. Januar als den "Tag der Demokratie" in den politischen Kalender einführen.
In ganz Brasilien werden Kundgebungen für die Demokratie erwartet. Aber auch rechtsextreme Kreise versuchen zu mobilisieren. Regierungsvertreter äußern sich aber gelassen: Die Sicherheitsbehörden würden die Netzwerke beobachten, um Überraschungen zu vermeiden, sagte der Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, Tadeu Alencar.