Brasilien Bolsonaros rechtsextreme Hinterlassenschaft
Brasilien hat mit Lula da Silva seit Januar wieder einen linken Präsidenten, aber das Erbe des rechtsextremen Vorgängers Bolsonaro wirkt fort. Im Land hat die Zahl neonazistischer Gruppen deutlich zugenommen.
Es ist Anfang Juni, als die Bundespolizei den Einsatz gegen eine Neonazi-Gruppe in Sao Paulo und Petrolina (Bundesstaat Pernambuco) beginnt.
Die Männer werden beschuldigt, Hassnachrichten über soziale Medien zu teilen, Gewaltvideos und Anleitungen für Sprengkörper, sogar für Morde zu verbreiten.
Die Neonazis stehen im Verdacht, einen Jugendlichen zu einem Amoklauf in einer Schule im vergangenen November angestachelt zu haben. Vier Menschen starben damals, 13 wurden verletzt. Im Smartphone des Täters fanden die Ermittler offenbar Material der Gruppe.
Der Ort der Radikalisierung: das Internet
"Das 'Deep Web', Messenger-Dienste und soziale Medien sind zu einem besorgniserregenden Ort der Radikalisierung geworden", bestätigt Guilherme Franco de Andrade, Spezialist für Neonazismus an der Staatlichen Universität von Mato Grosso do Sul.
Radikalisierung im Internet sei zwar ein weltweites Phänomen, doch die Brasilianer seien besonders internetaffin, und von daher brauche es hier einer großen Wachsamkeit für die Problematik.
Deutlich mehr Gewalttaten
Laut einer Studie aus dem vergangenen Jahr ist die Zahl neonazistischer Zellen in Brasilien sprunghaft angestiegen: 2015 waren es noch 75, Ende 2021 sollen es 530 gewesen sein. Es könnte sich um etwa 10.000 Neonazis handeln.
Die Studie stammt von der im Januar verstorbenen Anthropologin Adriana Dias, die als eine der größten Expertinnen auf dem Gebiet galt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die rechtsradikalen Zellen besonders im Internet Hass gegen vulnerable Gruppen schüren: unter anderem Frauen, Schwarze, Indigene.
Bolsonaros Erbe
Der Anstieg der Neonazi-Zellen fällt in die Amtszeit des ehemaligen, rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro, dessen Verbindung zu Neonazis Dias für erwiesen hielt.
"Bolsonaros Tiraden legitimierten den volksverhetzenden Diskurs und machen rechtes Gedankengut gesellschaftsfähig", schlussfolgerte die verstorbene Anthropologin, die 20 Jahre lang zu dem Thema Hassreden und Rechtsextremismus forschte.
Die Wurzeln reichen tiefer
Schon seit dem Jahr 2000 habe es eine zunehmend rechtskonservative Entwicklung in Teilen der Bevölkerung gegeben, erläutert der Historiker Guilherme Franco de Andrade.
Das sei ein Reflex darauf gewesen, dass Brasiliens Wähler 2003 erstmals mit Lula da Silva einen linken Präsidenten gewählt hatten. Danach wurde von rechten Kräften verstärkt die Angst vor dem Kommunismus geschürt, der besiegt werden müsse, so der Extremismus-Experte.
Eine tiefe Kluft
Zudem ist Brasilien tief gespalten, nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. In den vergangenen Jahren ging der Wohlstand im Land zurück, die Ungleichheit wuchs.
In der Pandemie stieg die Inflation stark an - und auch die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg. Korruptionsaffären schüren massiven Zweifel an der politischen Klasse und damit der Demokratie.
Bolsonaro als Brandbeschleuniger
"Die Neonazis sind nicht erst durch Jair Bolsonaro in Brasilien erschienen, aber er hat die Stimmung weiter angeheizt. In seinen Reden das Vertrauen in die demokratischen Institutionen untergraben, in die Justiz, das Wahlsystem, den politischen Konkurrenten. Er hat gegen Minderheiten gehetzt. Er hat insgesamt einen fruchtbaren Boden für die rechtsextreme Ideologie bereitet", sagt Franco de Andrade.
Durch Bolsonaro seien bei der vergangenen Parlamentswahl in einer noch nie dagewesenen Dimension ultrakonservative Politiker in das Parlament eingezogen. Ihre Politik richte sich konsequent gegen die Rechte von Minderheiten.
Auch das zeigt, wie politisch zerrissen das Land mit seinen 215 Millionen Einwohnern ist.
Sorgen - und Hoffnungen
Franco de Andrade hält die Entwicklung für besorgniserregend, auch wegen der Verbreitung extremistischer Gedanken über das Internet.
Eines aber sei wichtig, betont er: Wer zu Bolsonaro hält, sei nicht automatisch rechtsextrem. Und bislang sei die Zahl der Rechtsextremen in Relation zur Bevölkerung lange nicht ausreichend für einen fundamentalen politischen Wandel.