Protest von Brasiliens Indigenen "Niemals waren wir so bedroht wie jetzt"
Mit einem Protestcamp in der Hauptstadt wehren sich Brasiliens Indigene gegen eine Eisenbahntrasse mitten durch den Amazonas. Zudem machen ihnen Gesetzesvorhaben und ein Gerichtsverfahren ihre Territorien streitig.
Mit roten Arara-Federn auf dem Kopf bahnen sich die indigenen Kayapós ihren Weg zur Bühne des Protestcamps. Sie stampfen kollektiv mit den Füßen und rufen kurze, gepresste Laute im Rhythmus der Trommeln. So ziehen sie tanzend und marschierend vorbei an Vertretern anderer Stämme, die von weißen Plastikstühlen aus gebannt zuschauen.
Dieser Protesttanz der Amazonas-Bewohner aus dem Bundesstaat Pará ist bei der Versammlung indigener Gruppen in der Hauptstadt Brasilia einer der wenigen Momente, bei dem oben auf der Bühne niemand spricht. Dort hält kurz darauf Sônia Guajajara das Mikrofon fest in der Hand und ruft ins Publikum: "Guten Tag, liebe Familie!"
Guajajara ist eines der prominentesten Gesichter des indigenen Protests in Brasilien. Ihr Volk im Bundesstaat Maranhão hat den Ruf als "Wächter des Waldes" wegen seines Einsatzes für den Regenwald. Sie und ihre Mitstreiter stellen sich aktiv illegalen Holzfällern und Goldgräbern entgegen, zeigen diese an und bezahlen dafür nicht selten mit ihrem Leben.
Sônia Guajajara will nicht kampflos aufgeben - doch das ist in Brasilien häufig riskant.
1000 Kilometer Eisenbahnschienen
"Niemals war unsere Lebensweise im intakten Urwald so bedroht wie jetzt unter Präsident Bolsonaro", ruft Sônia ihren Zuhörern entgegen. "Doch wir werden ihm zeigen, dass er Gegner hat: nämlich uns, die Ureinwohner dieses Landes!" Applaus brandet auf - viele erheben sich von ihren Stühlen. Einige in der Gruppe der Kayapó stoßen ihre Fäuste Richtung Zeltdach.
Bereits vor einem Jahr, im August 2020, hatten die Kayapós für Aufsehen gesorgt. Damals blockierten sie die Bundesstraße 163 bei der Stadt Novo Progresso. Dadurch kam dort der Verkehr der unzähligen Soja-Transporter zeitweise zum Erliegen. Die Kayapós verschafften sich so Gehör in ihrem Kampf gegen das "Ferrogrão"-Eisenbahnprojekt, das durch ihre Gegend führen soll.
Von der Stadt Sinop im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso bis Itaituba in Pará plant die brasilianische Regierung den Bau von Eisenbahnschienen über eine Länge von 1000 Kilometern. Ziel ist es, Soja aus den Anbaugebieten schneller und günstiger als bislang an die Amazonas-Häfen zu transportieren, von wo aus es anschließend auf Schiffen nach China und Europa exportiert wird. Soja ist wichtiger Bestandteil des Tierfutters auch in Deutschland.
Brandrodung für den Sojaanbau
Die Kayapós stehen in der Gegend von Novo Progresso mit ihrem Protest allein auf weiter Flur. Die Region wird dominiert von Landwirten, die ihre Agrarflächen für Vieh oder Soja erweitern wollen.
Als im August 2019 die Amazonas-Brände weltweit für Schlagzeilen sorgten, hatten die Bewohner von Novo Progresso einen sogenannten "Tag des Feuers" ausgerufen. Brasiliens Behörden bemerkten per Satellitenüberwachung innerhalb weniger Tage Dutzende neu gelegte Brände, die offenbar das Ziel hatten, Agrarflächen zu vergrößern. Die Bolsonaro-Regierung unterstützt dieses Bestreben offen.
Sorge bereitet den Indigenen nicht nur die "Ferrogrão"-Eisenbahn - sie fühlen sich auch durch mehrere Gesetzesvorhaben bedroht.
Bedrohliche Gesetzesvorhaben und Gerichtsurteile
Derzeit stehen im Parlament zahlreiche Gesetze zur Abstimmung, die eine konkrete Bedrohung für indigene Territorien darstellen. Das Gesetzesvorhaben "PL 490" soll Minentätigkeiten in indigenen Schutzgebieten zulassen. Dies ist seit Jahren eine Forderung von Jair Bolsonaro.
Ein anderer Entwurf, die Gesetzesinitiative "PL 2633", wurde bereits von der Abgeordnetenkammer mehrheitlich verabschiedet. Sollte auch der Senat zustimmen, wäre die nachträgliche Legalisierung von Landraub erlaubt. Dies würde einen Teil der kriminellen Abholzung des Regenwalds aus der Vergangenheit mit einem Schlag für rechtmäßig erklären.
Diesen Mittwoch will Brasiliens Oberstes Gericht zudem eine Entscheidung über die sogenannte Regel "Marco Temporal" fällen. Dabei geht es um die Frage, ob Indigene nur dann ein Gebiet für sich beanspruchen dürfen, wenn sie bereits vor 1988 darauf gelebt haben.
Dies nachzuweisen ist in der Praxis jedoch schwierig. Außerdem wurden Indigene in einigen Fällen vor langer Zeit von ihrem ursprünglichen Gebiet vertrieben. Erst im Zuge der neuen Indigenen-Politik Brasiliens nach Ende der Militärdiktatur konnten sie mit Unterstützung des Staates erneut auf ihrem angestammten Land siedeln.
Die Angst der Verteidiger des Dschungels
Sollten Verfassungsrichter zu dem Schluss kommen, dass ein Nachweis von vor 1988 nötig ist, käme dies faktisch einer Beschneidung der bisher garantierten Rechte der Ureinwohner Brasiliens gleich. Und es könnte mittelfristig ebenso ein Treiber für die Urwald-Abholzung sein, so wie zahlreiche andere Projekte, die die Bolsonaro-Regierung derzeit durch den Kongress bringen will.
Die Indigenen sehen sich als Verteidiger des Dschungels. Deshalb sind nun 6000 von ihnen mit Bussen nach Brasilia gepilgert, um den Druck auf Brasiliens Richter und Politiker zu erhöhen. Die Kayapós wollen vor dem Obersten Gericht eine Mahnwache abhalten. Sie hoffen, dass die Richter in ihrem Sinne entscheiden und den Bolsonaro-Gesetzen einen Riegel vorschieben werden.
Sicher ist dies aber nicht. Viele haben Angst, dass Bolsonaro ein Jahr vor der nächsten Präsidentenwahl Fakten schaffen will - auf Kosten der Wächter des Waldes.