Afghanistan-Umfrage der ARD Das Ansehen des Westens ist so schlecht wie nie
Zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung stellen dem westlichen Engagement in ihrem Land ein negatives Zeugnis aus, mehr als ein Viertel befürwortet sogar Anschläge auf die NATO. Die Hoffnung auf eine Wende zum Besseren wurde in weiten Teilen des Landes enttäuscht; auch das Ansehen Deutschlands ist dramatisch gesunken. Das sind die Ergebnisse der neuen Afghanistan-Umfrage von ARD, ABC, BBC und "Washington Post".
Von Arnd Henze, WDR
Neun Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes hat das Ansehen des Westens in der afghanischen Bevölkerung ein Allzeittief erreicht. Nicht einmal mehr jeder dritte Afghane bewertet das Engagement von USA und NATO positiv, während zwei Drittel der Bevölkerung den Verbündeten ein negatives Zeugnis ausstellen. Besonders dramatisch ist der Sympathieverlust der Deutschen im Nordosten des Landes, dem Einsatzgebiet der Bundeswehr. Das sind die ernüchternden Botschaften der sechsten gemeinsamen Umfrage, die die ARD mit ihren Partnern ABC, BBC und "Washington Post" unter 1691 Afghaninnen und Afghanen durchgeführt hat.
Dabei hatte die Umfrage vor knapp einem Jahr erstmals seit langem wieder eine vorsichtige Aufbruchsstimmung unter den Afghanen festgestellt. Doch die Hoffnungen auf eine Wende zum Besseren wurden in weiten Teilen des Landes drastisch enttäuscht.
Keine Jobs, kein Geld für Lebensmittel und Heizöl
Sorgen macht den Afghanen vor allem die anhaltende Gewalt im Land sowie die wirtschaftliche Lage, die sich im vergangenen Jahr in vielen Bereichen dramatisch verschlechtert hat. Das betrifft vor allem den Mangel an Jobs und fehlende Möglichkeiten, sich eine eigene wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Nur noch jeder Dritte beschreibt seine eigene Situation in diesem Bereich als mehr oder weniger gut, während 66 Prozent der Menschen ihre Lage düster sehen. Auch für die kommenden Monate rechnen nur 22 Prozent der Befragten damit, dass sich ihre wirtschaftliche Situation verbessern wird.
Diese negative Entwicklung lässt sich vor allem im wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes beobachten - der Landwirtschaft. Immer weniger Menschen können sich Saatgut, Dünger und Geräte leisten, um ihre Felder zu bestellen. Nur noch 34 Prozent sehen ihre Möglichkeiten in der Landwirtschaft positiv - das sind elf Prozentpunkte weniger als vor knapp einem Jahr.
Ohne einen Job kann sich die große Mehrzahl der Afghanen selbst die notwendigsten Dinge zum Leben nicht leisten. Zwar gibt es in vielen Orten fast alles auf den Märkten zu kaufen, aber nur eine Minderheit kann die teuren Preise für Lebensmittel auch bezahlen. Gleiches gilt für Öl, das vor allem im bitterkalten Winter zum Heizen und zum Betreiben von Generatoren unverzichtbar ist.
Deutlich verschlechtert haben sich auch der Zugang zu sauberem Wasser, die Rechtslage der Frauen sowie die Bewegungsfreiheit im Land. Dabei sind es solche konkreten Veränderungen im Alltag, nach denen Menschen ihre Lebenssituation bewerten. Als sich vor einem Jahr die Stromversorgung in einigen Teilen des Landes spürbar verbesserte, hofften die Menschen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung, der ihnen die Möglichkeit geben würde, eine Werkstatt zu eröffnen oder einen Job zu finden. Aber es kam nichts nach - im Gegenteil: der Wiederaufbau des Landes stagniert trotz aller Versprechen des Westens.
Internationale Hilfe versickert im Sumpf der Korruption
Entsprechend kritisch fällt das Urteil über die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen aus, deren Tätigkeit nur noch von 43 Prozent der Befragten insgesamt positiv gesehen wird. Gerade einmal die Hälfte der Afghanen meint, ausländische Unterstützung werde "überwiegend sinnvoll" eingesetzt, 67 Prozent der Menschen sind überzeugt, dass ein erheblicher Teil der Gelder in dunklen Kanälen landet und die Bevölkerung nie erreicht. Damit wird internationale Hilfe vor allem mit der allgegenwärtigen Korruption in Afghanistan verbunden, die von rund 90 Prozent der Menschen als erhebliches Problem wahrgenommen wird.
Keine Schulen für ein Drittel der Mädchen
Erstmals beschäftigt sich die Umfrage genauer mit den Bildungsmöglichkeiten für Jungen und Mädchen. Insgesamt bekommen die örtlichen Schulen von rund 70 Prozent der Befragten gute Noten. Während die Versorgung mit Jungenschulen allerdings nahezu flächendeckend ist (87 %), gibt es für ein Drittel der Mädchen keinerlei schulische Angebote. Und jede zehnte Mädchenschule musste in den vergangenen Jahren dicht machen, fast alle wegen Angriffen und Einschüchterungen durch die Taliban.
Teil 2: Deutschland hat sein gutes Ansehen eingebüßt
Taliban militärisch nicht zu besiegen
Die Taliban und andere aufständische Gruppen werden weiter als größte Bedrohung im Land wahrgenommen. Nahezu gleich viel Befragte sehen die Aufständischen im vergangenen Jahr gestärkt, geschwächt oder gleich stark. Dabei fällt die Einschätzung regional sehr unterschiedlich aus. Es ist offensichtlich, dass die Taliban immer nur punktuell geschwächt oder verdrängt werden können. Aufs Ganze gesehen bleiben sie ein mächtiger Faktor im Land.
Nach neun Jahren Krieg setzen nahezu drei Viertel der Afghanen nicht mehr auf einen militärischen Sieg, sondern auf eine Verhandlungslösung, die auch eine Regierungsbeteiligung der Taliban einschließen würde (plus acht Prozentpunkte auf 73 %). Deutliche Ablehnung (61 %) gibt es aber für ein Verhandlungsergebnis, das ganze Provinzen unter die Kontrolle der Taliban stellen würde.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass eine große Mehrzahl der Afghanen einen schnellen Abzug der ausländischen Truppen unterstützt. 27 Prozent befürworten den von US-Präsident Obama angekündigten Beginn des Rückzugs im Sommer 2011, noch einmal fast genauso viele wollen sogar einen noch schnelleren Abzug. Nur 17 Prozent wollen die Truppen länger im Land behalten und ein weiteres Viertel will die Entscheidung von der weiteren Entwicklung im Lande abhängig machen.
Deutschland wird immer unbeliebter
Aus deutscher Sicht ist der Nordosten des Landes von besonderer Bedeutung, wo die Bundeswehr vor allem in der Provinz Kundus in den vergangenen Monaten an zahlreichen Offensiven gegen die Taliban beteiligt war. Im Ergebnis glauben immerhin 43 Prozent der Menschen in dieser Region an eine Schwächung der Taliban. Und, wie im gesamten Land, erklären die Menschen auch im Nordosten, dass es bei der Ausbildung des afghanischen Militärs Fortschritte gebe.
Doch die verstärkte militärische Präsenz der Bundeswehr hat einen hohen Preis. Deutschland hat das traditionell gute Ansehen und den Vertrauensvorschuss in Afghanistan eingebüßt. Hatten im Nordosten im Sommer 2007 noch 75 Prozent der Afghanen ein positives Bild von Deutschland, so ist es heute mit 46 Prozent erstmals nur noch eine Minderheit.
Vier von zehn Befragten im Nordosten sind der Ansicht, die NATO nehme immer weniger Rücksicht auf zivile Opfer und vernachlässige den zivilen Aufbau - deutlich weniger (32 bzw. 30 %) sehen in diesen wesentlichen Bereichen Verbesserungen. Ebenfalls nur eine Minderheit von gerade noch 31 Prozent (-15 %) meint, dass die von Deutschland geführten NATO-Einheiten noch über Rückhalt in der Bevölkerung verfügen.
27 Prozent befürworten Anschläge auf die NATO
Umgekehrt hat die Zahl derer, die Anschläge auf NATO-Einheiten befürworten, im Nordosten mit 39 Prozent ein Allzeithoch erreicht und liegt damit deutlich über dem ebenfalls gestiegenen landesweiten Wert (+ 19 auf 27 %). Es ist offensichtlich: Deutschland wird kaum noch als Verbündeter der Bevölkerung, sondern fast nur noch als ausländische Kriegspartei wahrgenommen. Punktuelle Erfolge im Kampf gegen die Taliban und beim Aufbau der afghanischen Armee werden pragmatisch registriert, aber die Köpfe und Herzen der Menschen erreicht das deutsche Engagement nicht mehr.
Diese negative Sicht verbindet sich mit einer extrem schlechten Beurteilung der Lebensbedingungen im Nordosten. Fast drei von vier Befragten - und damit deutlich mehr als im Landesdurchschnitt - beschreiben ihre beruflichen Möglichkeiten negativ. Das ist ein dramatischer Anstieg um 21 Prozentpunkte gegenüber der vergangenen Umfrage. Noch deutlicher als im übrigen Land beklagen die Menschen in der von Landwirtschaft geprägten Region vor allem die unbezahlbaren Grundnahrungsmittel und viel zu teures Saatgut und Dünger.
Auch Ansehen der USA sinkt
Im Gesamturteil sprechen erstmals mehr Afghanen dem Engagement der Deutschen eine negative als eine positive Rolle im Lande zu. Und auch hier fällt das Urteil im Nordosten noch kritischer aus als in den übrigen Regionen: Innerhalb von nur zwei Jahren hat sich die Zahl der Bewohner mit einem positiven Urteil von 45 Prozent auf 21 Prozent mehr als halbiert und die Zahl der Kritiker von acht auf 27 Prozent mehr als verdreifacht. Knapp die Hälfte der Befragten sieht Deutschlands Rolle neutral.
Mit diesem Trend steht Deutschland allerdings nicht allein. Auch mit Blick auf die USA sehen erstmals mehr Afghanen eine negative (+12 auf 43 %) als eine positive Rolle (-9 auf 36 %) im Lande. Dabei polarisieren die USA sehr viel stärker als Deutschland, so dass nur 20 Prozent die USA mit "neutral" beurteilen.
Erfolge in Helmand - aber ohne Anerkennung für die USA
Ausnahme Helmand: Hier greift neue US-Strategie
Der von US-Präsident Obama vor einem Jahr angekündigte Strategiewechsel und die damit verbundene Truppenverstärkung werden zwar nicht grundsätzlich abgelehnt, die Auswirkungen sind aber nur in einem einzigen Gebiet deutlich messbar. Gegen den Trend ist die Gesamtzufriedenheit der Menschen in der einstigen Unruheprovinz Helmand im vergangenen Jahr von 44 auf 71 Prozent gestiegen.
Vor allem die wirtschaftlichen Möglichkeiten werden von 59 Prozent (+ 44 %), die Bewegungsfreiheit von 61 Prozent (+ 35 %) und der Schutz vor den Taliban von 58 Prozent (+45 %) der Bevölkerung deutlich positiver bewertet. Damit spiegelt die Reaktion der Menschen die Sonderstellung von Helmand wider: Die USA haben ihre ganze militärische Kraft und einen großen Teil der Aufbauhilfe auf diese eine Provinz konzentriert.
Aber selbst für die Nachbarprovinz Kandahar reichen die Kräfte offensichtlich kaum noch aus, um die Taliban auch dort zu verdrängen und die Lebenssituation zu verbessern. Und die US-Regierung hat schon deutlich gemacht, dass es weder den politischen Willen noch die Mittel gibt, den gigantischen Aufwand in Helmand zum Modell für das ganze Land zu machen. Das wissen auch die Taliban und verlagern ihre Kräfte in bisher eher stabile Provinzen.
Erfolge werden den eigenen Kräften zugerechnet
Honoriert wird das Engagement der USA aber selbst in Helmand nicht. Im Gegenteil: Trotz der spürbaren Verbesserungen billigen nur 19 Prozent (-17 %) der Menschen in dieser Provinz den USA eine positive Rolle im Lande zu, deutlich mehr (+ 10 auf 44 %) sehen das Gesamtbild der USA negativ. Für die Erfolge werden dagegen eher die afghanischen Kräfte verantwortlich gemacht. Dramatisch bessere Werte gibt es in der Provinz Helmand für Präsident Karsai (+ 22 auf 62 %), seine Regierung (+ 33 auf 58 %), die Armee (+ 15 auf 67 %) und die lokale Polizei (+ 49 auf 65 Prozent).
Auch landesweit bekommen afghanische Institutionen deutlich bessere Noten. Eine deutliche Mehrheit bescheinigt Präsident Karsai, Armee und Polizei eine insgesamt gute Leistung. Immerhin 59 Prozent sind nach wie vor der Ansicht, das Land bewege sich in die richtige Richtung - elf Prozent weniger als vor knapp einem Jahr.
Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Umfrage, dass die Afghanen auch kleinere positive Entwicklungen den eigenen Akteuren zurechnen, während sie für alle Fehlentwicklungen die ausländischen Kräfte haftbar machen. Offensichtlich werden die eigenen Institutionen an deutlich niedrigeren Erwartungen gemessen als die internationalen Truppen und Organisationen, die zu viel versprochen und zu wenig eingelöst haben.
Umfragen werden schwieriger
Insgesamt bietet die sechste repräsentative Umfrage wenig Lichtblicke. Die ernüchternden Zahlen werden auch durch die Erfahrungen bei der Erhebung der Studie gestützt. Zwar führten die mehr als 200 afghanischen Befragerinnen und Befrager ihre Interviews in allen 34 Provinzen durch. In diesem Jahr konnten allerdings deutlich mehr Orte als in früheren Jahren aus Sicherheits- oder Witterungsgründen nicht erreicht werden, so dass zwar 90 Prozent der ausgewählten Männer, aber nur 79 Prozent der Frauen befragt werden konnten. Eine Umfrage auf der Basis von 85 Prozent der Bevölkerung ergibt immer noch eine sehr starke Datengrundlage. Da es sich bei den unzugänglichen Orten aber überwiegend um besonders arme und umkämpfte Gebiete handelt, dürften die fehlenden Werte den skeptischen Trend der Befragung eher noch verstärken.
Die sechste Umfrage von ARD, ABC, BBC und "Washington Post" basiert auf der Befragung von 1691 repräsentativ ausgewählten Afghaninnen und Afghanen in allen 34 Provinzen. Die Ergebnisse wurden zeitgleich in Köln, London, Washington und New York veröffentlicht. Durchgeführt wurde die Studie mit rund 150 Fragen im November 2010 in persönlichen Interviews von 98 weiblichen und 111 männlichen Interviewern des "Afghan Center for Socio-Economic and Opinion Research" (ACSOR). Die Befragung erfolgte in der jeweiligen Stammessprache - wobei Frauen nur von Frauen interviewt wurden. Die Umfrage hat eine statistische Unschärfe von 3,5 Prozent.