Alexander Gerst zu "Artemis"-Mission "Grundstein für künftige Mondbasis"
Die "Artemis"-Mission schlägt ein neues Kapitel der Raumfahrt auf, sagt Astronaut Alexander Gerst. Denn sie legt den Grundstein für eine künftige Mondstation. Im Interview spricht er über Forschung auf dem Mond und seine persönlichen Hoffnungen.
tagesschau.de: Herr Gerst, neben schlechten Wetterbedingungen ist der "Artemis"-Start auch schon mehrfach wegen technischer Probleme verschoben werden. Wie bewerten Sie das?
Alexander Gerst: Wenn man ein komplexes System entwickelt wie jetzt das Space Launch System, mit zahlreichen neuen Komponenten und einem neuen Raumschiff, dann muss das gut getestet werden. Da gibt es natürlich am Anfang technische Probleme wie bei jedem Projekt, und die möchte man konservativ lösen. Wenn man zum Beispiel ein Problem mit dem Tankschlauch hat - wie beim letzten Mal -, dann will man nicht riskieren, dass es zu einer Explosion kommt, weil Gas aus einer undichten Verbindung des Schlauches austritt. Also geht man extrem vorsichtig vor und verschiebt lieber den Start, solange es notwendig ist, als stattdessen einen Fehlstart zu riskieren.
Es hängen ja keine Menschenleben an dem Starttermin. Der Start wird erst freigegeben, wenn wir uns sicher sind, dass alle Probleme beseitigt sind. Das ist genau die richtige Entscheidungsphilosophie und hat daher keinen meiner Kolleginnen und Kollegen überrascht. Im Gegenteil, wir sehen das positiv.
Der Astronaut ist seit 2009 Mitglied des ESA-Astronautenkorps. 2014 und 2018 flog er an Bord einer russischen Sojus-Rakete zur Internationalen Raumstation ISS, wo er jeweils mehrere Monate blieb und zahlreiche Experimente durchführte. Bei seinem zweiten Aufenthalt war er zugleich Kommandeur der ISS. Gerst wurde 1976 in Künzelsau geboren und ist Geophysiker und Vulkanologe.
"Artemis" ist genauso wichtig wie die ISS
tagesschau.de: Die Rückkehr zum Mond hat sich zu einem Mammutprojekt entwickelt. Die Amerikaner hatten das schon vor 20 Jahren angekündigt - wieso dauert das so lange? Und was ist diesmal anders?
Gerst: Das stimmt. Als ich vor 13 Jahren bei der ESA angefangen habe, da gab es bereits ein nationales Mondprogramm der USA, das Constellation Programm, das große Hoffnungen geweckt hat. Es wurde aber - wie viele Programme davor - wieder eingestampft. Jetzt ist der Wind ein anderer, weil "Artemis" ein internationales Mondprogramm ist. Diesmal machen es die Amerikaner nicht alleine, sondern Europa, Japan und Kanada sind mit beteiligt.
Das Orion-Raumschiff ist zur Hälfte in Europa, in Bremen, mit Komponenten aus ganz Deutschland gebaut worden. Die Lageregelungstriebwerke kamen aus Lampoldshausen - das ist ein Ort, der nur 20 Kilometer von meinem Heimatort Künzelsau entfernt ist. Das heißt, wir sind da alle mit dabei, wenn diese Rakete startet.
tagesschau.de: Welchen Bedeutung hat denn dieses Programm für die gesamte Raumfahrt?
Gerst: Das "Artemis"-Programm ist gewaltig und so wichtig wie das erfolgreiche ISS-Programm, das in den 1990er-Jahren begann. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir Europäer mit dabei sind. Internationale Zusammenarbeit bedeutet immer Stabilität für ein Projekt. Eine neue Regierung auf einer Seite allein kann es nicht mehr so einfach abbrechen, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Das ist die Schönheit der internationalen Kooperation, die auch der ISS durch viele Krisen geholfen hat und jetzt dafür sorgt, dass wir so viele wertvolle Resultate von der ISS zurückbekommen. Beim Mondprogramm wird das ähnlich werden.
Drei "Artemis"-Missionen
tagesschau.de: Der erste Flug von "Artemis I" ist unbemannt und soll zunächst den Mond umrunden. Wie geht es danach weiter?
Gerst: Die "Artemis II"-Mission wird eine Crew an Bord des Orion-Raumschiffs haben, die den Mond umrunden und Tests in der Mondumlaufbahn durchführen wird. Die Astronauten an Bord werden sich weiter von der Erde entfernen als jemals ein Mensch zuvor. Mit der ebenfalls astronautischen "Artemis III" und den darauffolgenden Missionen sollen wieder Menschen auf dem Mond landen, diesmal jedoch wissenschaftlich nachhaltig.
Außerdem bauen wir gerade den Gateway, das ist die "Sprungbrett-Raumstation", die Pforte zum Mond. Das ist eine Raumstation, die um den Mond kreisen und zu der Europa zwei zentral wichtige Module bereitstellen wird. Es werden gerade die ersten Teile verschweißt.
"Es geht nicht um uns"
tagesschau.de: Die ESA hat ein Astronautenteam für den Mond zusammengestellt. Wie sehen Sie Ihre Chance, den Mond zu betreten? Sie sind von Ihrer Ausbildung her Geophysiker und Vulkanologe, das würde also gut passen...
Gerst: Wir sind sieben erfahrene Astronautinnen und Astronauten im Europäischen Korps und wir - das ist unser Job - bereiten uns natürlich alle darauf vor, dass wir solch eine Mission fliegen können. Das bedeutet, auch die Kolleginnen und Kollegen, die nicht Geophysiker oder Geologe sind wie ich, lernen Gesteinskunde und wie man auf dem Mond Gesteinsproben nimmt.
Ich persönlich würde mich selbstverständlich riesig über eine solche Mission freuen. Es geht aber nicht um uns. Es sollte nicht wichtig sein, wer von uns zum Mond fliegt. Es geht darum, dass wir als Menschheit insgesamt endlich zum Mond fliegen, um dort Wissenschaft und nachhaltige Forschung zu betreiben. Und dass wir als Europäerinnen und Europäer mit dabei sind.
tagesschau.de: Werden denn alle sieben Europäer zum Mond fliegen?
Gerst: Wir freuen uns, dass es bereits jetzt Vereinbarungen mit unseren internationalen Partnern gibt, dass drei europäische Astronautinnen oder Astronauten mit auf die "Gateway"/"Artemis"-Mission fliegen können und vielleicht eine oder einer schon bald die Mondoberfläche betreten kann.
Das hängt davon ab, wieweit wir Europäer bereit sind, uns auch in Zukunft an dieser internationalen Kooperation zu beteiligen, indem wir zum Beispiel die europäische robotische Landefähre bauen, die wir Argonaut getauft haben. Sie landet auf dem Mond, um dort Wissenschaft zu betreiben und Fracht hinzubringen für astronautische Landungen oder gar eine Mondbasis. Wenn wir uns daran beteiligen und unsere Industrie weiter mit dabei ist, dann wird es noch mehr Flüge zum Mond geben. Das heißt: Drei Astronauten sind erst der Anfang.
"Dabei können wir vom Mond viel über unsere eigene Geschichte lernen"
tagesschau.de: Warum wollen wir nach den Apollo-Missionen eigentlich überhaupt wieder zum Mond fliegen?
Gerst: In den 1960er- und 1970er-Jahren ging es darum, auf dem Mond eine Flagge aufzustellen und ein paar Steine mitzunehmen. Insgesamt gab es nur sechs kurze Landungen. Noch dazu sind die Missionen damals alle ungefähr in derselben Region gelandet. Der Mond ist jedoch viermal so groß wie Europa. Wir wissen also sehr wenig über den Mond, weil wir nicht viel Zeit hatten, um Wissenschaft zu betreiben. Das lag vor allem an den technischen Limitierungen.
Dabei können wir vom Mond sehr viel über unsere eigene Geschichte lernen - etwa, wie die Atmosphäre auf der Erde entstand. Wir können dort Hinweise auf die Entstehung des Lebens finden und Gefahren besser einschätzen, die uns Erdenbewohner vom All aus drohen - Asteroiden und Sonnenstürme beispielsweise.
Deshalb werden wir jetzt als Menschheit international mit vielen Partnern zum Mond fliegen, um Wissenschaft zu betreiben. Viel längerfristiger als bisher. Ungefähr so, wie es nach den ersten Entdeckungsexpeditionen in der Antarktis vor 100 Jahren lief. Bei der ersten Expedition zum Südpol ging es hauptsächlich darum, eine Flagge aufzustellen. Aber danach - und in der Phase sind wir jetzt beim Mond - kamen die Forschungsstationen und die wirklich wichtigen Erkenntnisse.
Ich bin mir sicher: In 50 oder 100 Jahren werden auf dem Mond viele Forschungsstationen betrieben werden, die für unser Selbstverständnis und das Überleben der Menschheit auch auf der Erde extrem wichtig sind. Wir legen jetzt den Grundstein dafür.
Das Interview führte Ute Spangenberger, SWR
So könnte die Forschung der "Artemis"-Astronauten auf dem Mond aussehen.