Hochschullehrerin des Jahres "Wir könnten ehrgeiziger sein"
Anwältin der Meere und herausragende Wissenschaftskommunikatorin - so begründet der Deutsche Hochschulverband die Ehrung für Tiefseeforscherin Boetius. Sie erzählt im Interview, was die Auszeichnung für sie bedeutet.
tagesschau.de: Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Antje Boetius: Das ist eine Riesenehre. Vor allem, weil es um Forschung und Lehre zusammen geht. Eine Stimme für die Meere, für die Erde, für uns alle zu haben in Bezug auf Natur, ihre Erhaltung, ihre Pflege - das ist so wichtig in diesen Zeiten. Und ich freue mich sehr: Es ist eine Auszeichnung für das Gesamtpaket Forschung, Lehre und Transfer.
Antje Boetius ist Tieseeforscherin und Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Folgen des Klimawandels auf die Ozeane und Polarregionen sowie die Erforschung der Tiefseeökosysteme.
Aufgaben von Lehre und Forschung
tagesschau.de: Wie wichtig ist es für Wissenschaftlerinnen und für Wissenschaftler, heute eine wirkliche Stimme zu sein - in Ihrem Fall für die Tiefsee?
Boetius: Angesichts der globalen Veränderung ist das Bewusstsein dafür gestiegen, dass wir in ein neues Zeitalter - das Anthropozän - eingetreten sind, in dem der Mensch die stärkste geologische Kraft ist. Das betrifft alle Felder. Viele Studierende fragen sich: Wozu ist mein Studium da? Welche Berufe kann ich damit ergreifen? Was muss ich heute wissen für die Zukunft, um selbst auch eine aktive Rolle darin zu übernehmen? Was muss ich wissen, um etwas zusammenzufügen, was auseinandergefallen zu sein scheint? Und genau da sind Lehre und Forschung an den Hochschulen und Universitäten eine ganz wichtige Sache.
Große Fragen gemeinsam beantworten
tagesschau.de: Sie haben gesagt, es ist etwas scheinbar auseinandergefallen - was meinen Sie damit?
Boetius: Ich glaube, Gesellschaft und Wissenschaft sind enger verwoben denn je. Aber auseinandergefallen sind in vielen Teilen unser Wissen und unser Expertentum. Wenn es um die großen Fragen der Zukunft geht, dann ist klar, dass der Mensch, das Ökonomische, das Ökologische zusammengehören. Aber wir haben Mühe nach vielen Jahrzehnten Fokus auf Spezialwissen - was wir immer auch brauchen - die großen Fragen gemeinsam und übergreifend zu beantworten.
Und dafür sind Forschung und Lehre gefordert. Dafür ist auch der Wissenstransfer gefordert, dafür sind Universitäten als Räume des gemeinsamen Wissenserwerbs gefordert. Wenn man in die Geschichte des Wissens schaut, kommt immer wieder heraus, dass Hochschulen eine so wichtige Rolle spielen. Wir müssten es nur schaffen, die Ausbildung zu all dem, was die Zukunft uns abfordert, noch besser zu gestalten. Dazu gehört aber auch, dass Forschung und Lehre besser gefördert werden.
"Nutzen von Ressourcen fair gestalten"
tagesschau.de: Beim Hochseeschutzabkommen hat es beinahe 15 Jahre gedauert, bis es zu einer Einigung gekommen ist. Warum dauert das so lange?
Boetius: Es geht um einen Raum, zu dem kaum jemand Zugang hat, mit einer Lebensvielfalt, von der wir nur ganz wenig kennen. Den Zugang aufzuteilen, zu beschreiben, um welche Zukunftswerte es hier eigentlich geht - das ist eine unglaubliche Herausforderung. Und das ist genau das Problem, in dem wir feststecken.
Für die globalen Gemeingüter, zu denen auch die gesamte Lebensvielfalt des Planeten gehört, dafür haben wir noch kein Konzept des fairen Teilens. Wir lernen als Menschheit nur mühsam, wie wir auf der gesamten Erde das Nutzen von Ressourcen fair gestalten können. Nicht nur für unsere Gegenwart, sondern auch für die Zukunft. Das ist unglaublich schwer. Da sind 15 Jahre fast eine kurze Zeit, um das zu schaffen.
Eine gute Zukunft organisieren
tagesschau.de: Sind Sie manchmal als Wissenschaftlerin ungeduldig?
Boetius: Ungeduldig werde ich dann, wenn es um unsere eigenen nationalen Beiträge zur Zukunft des Ganzen geht. Denn innerhalb der staatlichen Grenzen, den Zielen, die wir schon abgesteckt haben, könnten wir gerade in Deutschland, zusammen in Europa schon viel weiter sein. Wir könnten ehrgeiziger sein, schneller sein. Es ist schon geklärt, wie alle zusammenarbeiten müssen, damit wir für unsere Kinder und Kindeskinder eine gute Zukunft organisiert bekommen.
Und das ist das, was mich dann manchmal frustriert oder ärgert, dass alles so klar beraten auf dem Tisch liegt und es trotzdem so lange dauert, bis wir den Ruck getan haben, der uns guttun wird. Dass das auf globaler Ebene sehr schwierig ist, finde ich nicht verwunderlich, angesichts des Nachwirkens von jahrhundertelanger Ungerechtigkeit. Denn bis heute ist die Frage der Natur und der Bewahrung immer auch noch verknüpft mit der Auswirkung von Kolonialismus. Und da sind wir lange noch nicht drüber weg, da mit unserer Geschichte aufzuräumen.
"Es findet eine Umorganisation statt"
tagesschau.de: Wie kommen jetzt diese Erkenntnisse zu den Menschen, also in die Gesellschaft?
Boetius: Es braucht eine Umorganisation dessen, wie wir heute handeln und agieren. Wir Menschen wissen doch gut, wie wir funktionieren können als Gemeinschaft. Nehmen wir nur mal das Beispiel Müllabfuhr. In Deutschland ist es völlig normal, dass der Einzelne sich um Müll und Müllabfuhr nicht weiter kümmern muss. Man bezahlt eine Steuer dafür, einen Beitrag und dann wird der Müll abgeholt. In anderen Ländern ist das nicht selbstverständlich und es ist eben eine Frage der Organisation, der Regeln, des Beitrags.
Wenn wir jetzt an die globalen Gemeingüter denken, wie unsere Atmosphäre, haben wir das dafür aber nicht organisiert. Bis heute benutzen wir die Atmosphäre als kostenfreie Müllhalde. Quälend langsam wird zum Beispiel dafür eine CO2 Steuer erhoben, damit es möglich sein wird, die eingenommenen Mittel zum Schutz der Atmosphäre, und sozusagen zum Aufräumen, also dem Entzug von CO2 zuzuführen.
Und dabei auch Gerechtigkeit walten zu lassen, für diejenigen, die nicht viele Mittel haben, gar nicht so viel CO2 emittieren, sei es bei uns oder auf der ganzen Welt. Dieses Prinzip des gemeinsamen Schützens des Gemeingutes ist uralt, aber es wurde noch nie auf die Skala aller Gemeinschaften und des ganzen Planeten übertragen.
Es muss einfach und günstig sein und richtig, damit was wir an Steuern zahlen, die Natur und die Atmosphäre schützt. Es muss dagegen unbequem sein, die globalen Gemeingüter zu übernutzen und sie zu zerstören. Das muss genau geschafft werden von jedem einzelnen Staat und auch für die Bereiche der Erde, die allen Staaten gemeinsam, allen Menschen gemeinsam gehören.
Unterstützung für Wissensvermittlung
tagesschau.de: Könnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler da mehr tun, mehr kommunizieren, einfacher kommunizieren?
Boetius: Beim Kommunizieren der Wissenschaft braucht es die gesamte Skala. Natürlich müssen wir unser Expertenwissen miteinander teilen. Es ist schon unfassbar schwierig, über die unterschiedlichen Disziplinen hinweg zu Einigungen, zu Vorschlägen, zur gemeinsamen Forschung zu kommen. Und dann wollen natürlich viele andere Menschen teilhaben, an dem, was gerade an frischem Wissen entsteht. Dazu muss man verschiedene Formen von Sprache, von Kommunikationsmitteln, von Medien, von Plattformen nutzen.
Für die Wissenschaft, die Hochschulen kommt das alles aber noch obendrauf. Dafür ist die Wissenschaft heute nicht unbedingt organisiert. Sie schafft es noch nicht immer, ihr errungenes Wissen zum Beispiel in künstlerische, fiktive Formate oder in Bürgerwissenschaften zu übertragen.
Wir könnten also gerade hier besser unterstützt werden, gefördert werden, damit wir diese wichtige Aufgabe in der Gesellschaft übernehmen können. Denn in den Krisen, in denen wir stecken, von denen einen nach der anderen kommt, geht es ganz oft auch um Geschwindigkeit von Wissen und seiner Umsetzung. Es soll schnell gehen, sofort gehen und es soll trotzdem verlässlich sein. Das bedeutet, es gibt einen hohen Bedarf an struktureller Unterstützung.
Das Interview führte Anja Martini für tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Fassung angepasst und gekürzt.