Havarierter Frachter bedroht Wattenmeer "Das mag man sich nicht ausmalen"
Seit 2009 ist das Wattenmeer Weltnaturerbe, Grund ist seine herausragende geologische und ökologische Bedeutung. Jetzt aber ist es wegen des havarierten Frachters in Gefahr. Was das bedeutet, erklärt der Biologe Südbeck.
tagesschau.de: Herr Südbeck, wie geht es Ihrem Team und Ihnen gerade?
Peter Südbeck: Wir sind hochgradig besorgt. Wir sind auch alarmiert. Und wir haben natürlich die große Hoffnung, dass die Kollegen in den Niederlanden es schaffen, dass weder das Schiff noch die Reste des Schiffs zu uns kommen. Wenn ein brennendes Schiff manövrierunfähig entlang des Wattenmeeres dahintreibt, dann ist es eine latente Gefahr für unser Weltnaturerbe Wattenmeer. Das möchte keiner, und wir alle hier möchten das Wattenmeer auch vor solchen Havarien schützen.
Peter Südbeck ist seit 2005 Leiter der Nationalpark- und UNESCO-Biosphärenreservatsverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer. Der Nationalpark umfasst annähernd die gesamte niedersächsische Wattenmeerküste und nimmt große Teile der Ostfriesischen Inseln mit auf.
tagesschau.de: Warum ist dieses Wattenmeer so ein hochsensibles Ökosystem?
Südbeck: Das Wattenmeer ist Weltnaturerbe. Das heißt, es muss zwei Kriterien erfüllen: Es muss einzigartig sein, und es muss außergewöhnlich sein. Dass es außergewöhnlich ist, kann jeder spüren. Ein Spaziergang auf dem Meeresgrund, den Watten bei Niedrigwasser - das ist etwas Außergewöhnliches.
Und es ist das größte Wattgebiet der Welt. Wir haben auf allen Kontinenten Wattenmeere, aber so ein großes, unzerschnittenes Ökosystem ist einzigartig.
Das Leben im Watt, das sieht man erst auf den zweiten Blick. Hier können über 100.000 kleine Schlickkrebse auf einem Quadratmeter Wattboden vorkommen. Die nehmen organische Stoffe auf, Algen, Bakterienrasen, in denen die Nährstoffe sind, und haben insgesamt eine ungeheure Bioproduktion, die größer ist als im tropischen Regenwald. Davon lebt dann die Biodiversität auf dieser Welt, nämlich die Zugvögel, die in der Arktis brüten, in Afrika überwintern und einen 10.000 Kilometer langen Weg haben. Auf der Mitte dieses Weges müssen sie sich satt fressen und die Grundlage für ihre nächste Zugperiode setzen - die Mitte des Weges ist hier im Wattenmeer. Das ist dann Biodiversität in der weltweiten Verantwortung.
Worst-Case-Szenario: Das Wattenmeer stirbt
tagesschau.de: Sie selbst sind Biologe. Was passiert, wenn so ein Ökosystem aus dem Gleichgewicht gerät?
Südbeck: Wenn das Worst-Case-Szenario eintritt, dass wir eine Ölbedeckung auf den Wattgebieten haben, dann sind sie ökologisch tot. Das kann kein Organismus, der Sauerstoff braucht, der an die Luft muss, überstehen. Das Wattenmeer ist bewohnt von Tieren, die unten im Boden leben und zur Nahrungsaufnahme oder zum Luftholen an die Oberfläche kommen. Dieser Weg wäre durch einen Ölfilm unterbrochen. Das heißt, das Wattenmeer stirbt an dieser Stelle.
Wenn der Ölteppich auf der Wasserfläche an unsere Küste treibt, dann wird es natürlich zunächst bei den Vögeln, bei den Meeressäugern zu Verschmutzungen im Gefieder, im Fell führen, aber auch zur Aufnahme in den Magen, zu Vergiftung und Verschmutzung und dadurch zum Tod der Tiere. Das mag man sich nicht ausmalen.
tagesschau.de: Wenn dieses Ökosystem nun nicht mehr da wäre, wäre das dann ein lokales Problem oder ein weltweites?
Südbeck: Ich komme zurück auf die Weltnaturerbe-Bedeutung des Wattenmeeres: Die Zugvögel haben hier einen Rastplatz. Sie sind unmittelbar davon abhängig, dass sie nach teilweise 5.000 Kilometern Nonstop-Flug in großen Mengen - wir reden von Millionen von Tieren - das Wattenmeer haben, um ihre Energiereserven aufzufüllen, um so die Grundlage für die nächste Zugetappe zu legen. Wenn das Gebiet nicht mehr in der Qualität und Funktion da ist, dann fällt dieser Vogelzug so aus. Dann versuchen die Vögel, Ausweichbewegungen zu finden. Aber es gibt kein zweites Wattenmeer auf diesem Zugweg. Und da reden wir von 10.000 Kilometern Distanz auf diesem Planeten. Das Wattenmeer zu schützen, ist eine Weltverantwortung und eine Weltbedeutung.
Ein Cocktail von Schadstoffen
tagesschau.de: Ist es nur das Schweröl, was ein Problem für die Küste darstellt?
Südbeck: Nein, es sind ja fast 4.000 Autos auf dem Schiff. Wir wissen nicht, welche Komponenten im Einzelfall verarbeitet sind. Es sind Elektroautos dabei, das ist ein neues Konstrukt - wenn wir an die großen Batterien denken mit Lithium-Ionen, die dort freigesetzt werden können.
Das ist insgesamt ein Cocktail von Schadstoffen, der sehr unterschiedlich wirkt. Das Öl ist vielleicht die größte Gefahr im Einzelnen, und man kennt sich am besten damit aus. Aber bei vielen, vielen Stoffen kennen wir die Konsequenzen und Wirkungen noch gar nicht, wenn sie in die Umwelt gelangen.
Deswegen müssen wir Vorsorge treffen, dass von diesem havarierten Schiff möglichst wenige oder möglichst gar keine Schadstoffe in die Meeresumwelt gelangen. Wir sind ein Weltnaturerbe - die Niederlande, Deutschland und Dänemark. Es betrifft unser Ökosystem, unser Weltnaturerbe, und deshalb müssen wir alle zusammenarbeiten.
"Ein Stein kommt zum anderen"
tagesschau.de: Das Wattenmeer hat so etwas schon mal erlebt. 1998 hat es das Unglück der "Pallas" gegeben. Kann sich ein Ökosystem von so einem Unfall regenerieren?
Südbeck: Wir hatten mit dem "Pallas"-Unglück vor der schleswig-holsteinischen Insel Amrum ein wirkliches Desaster und wir haben viel daraus gelernt.
Damals ist es im Wesentlichen zur Verölung von Vögeln kommen. Mehr als 10.000 tote Eiderenten, Trauerenten - also Vögel, die auf dem offenen Meer leben, dort, wo der Ölteppich ankam. Entsprechend verölt waren die Tiere, das Gefieder war zerstört, die Vögel starben an Unterkühlung. Und dann haben sie ölverschmierte Nahrung zu sich genommen - und sich am Ende vergiftet.
Grundsätzlich können sich die Bestände natürlich erholen. Aber das ist ja nicht der einzige Stressfaktor, wir haben den Klimawandel, wir haben weitere allgemeine Verschmutzungen, wir haben andere Effekte, die auf die Population derzeit kritisch und gefährdend Einfluss nehmen. Irgendwann ist natürlich die Erholungskapazität begrenzt. Den Eiderenten geht es bis heute nicht besonders gut in ihren Populationen hier im nordwesteuropäischen Raum. Da kommt ein Stein zum anderen.
tagesschau.de: Was ist Ihre Hoffnung jetzt in der aktuellen Situation?
Südbeck: Die Hoffnung ist, dass die niederländischen Kollegen den Frachter bald wirklich unter Kontrolle bekommen, dass es nicht zum Sinken des Schiffes kommt und auch nicht zum Zerbrechen des Schiffes. Damit ein Austreten von großen Mengen Schweröl, die wir an Bord vermuten, verhindert wird.
Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.