Eine Frau steht neben einem Laptop und trägt eine VR-Brille.

Virtual Reality bei Essstörungen Mit VR-Brille Magersucht behandeln

Stand: 11.11.2023 09:52 Uhr

Magersucht ist durch die Angst vor Gewichtszunahme geprägt. Um sie zu überwinden, gibt es ein neues Virtual-Reality-Tool, mit dem sich Betroffene mit einem gesunden Körpergewicht erleben können.

Von Katharina Ditschke, Lilly Zerbst und Martina Janning, SWR

Magersüchtige sind auffallend dünn, nehmen sich aber als dick war. Ihre Gedanken kreisen ständig um ihre Figur, Essen löst bei ihnen Panik aus. Abnehmen wird zur Sucht. Ein VR-Tool bietet nun eine neue Therapie-Möglichkeit.

Um Magersucht zu behandeln, setzen Mediziner und Medizinerinnen darauf, das Essverhalten der Betroffenen zu verbessern und die psychischen Probleme in den Griff bekommen, die zu der Entwicklung der Essstörung beigetragen haben.

Zentral ist es, das Gewicht der Betroffenen zu normalisieren. "Gewicht zuzunehmen ist gerade am Anfang das wichtigste Ziel in der Behandlung von Magersucht, aber für die Betroffenen ist es auch eine maximale Herausforderung", erklärt die Psychotherapeutin Dr. Simone Behrens.

Ursachen von Magersucht

Die Ursachen von Magersucht (Anorexia nervosa) können sowohl psychologischer als auch biologischer Natur sein. Menschen, die an Anorexie leiden, haben häufig ein gestörtes Selbstbild. Geringe Selbstachtung, Depressionen und Angstzustände sind verbreitet. Dazu kommen soziale Faktoren wie gesellschaftliche Erwartungen an Gewicht und Aussehen.
Es gibt aber auch Hinweise auf genetische Faktoren und dass Hormone und Neurotransmitter im Gehirn am Entstehen von Magersucht beteiligt sein können. Im Einzelfall kommen häufig mehrere Faktoren zusammen, damit sich eine Anorexia nervosa entwickeln kann.

Sich dem Szenario der Gewichtszunahme annähern

Eine neue Virtual-Reality-Anwendung soll Betroffenen nun helfen, ihre Angst vor der Gewichtszunahme zu bekämpfen. Entwickelt haben es Wissenschaftlerinnen der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen und des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme.

Mit der VR-Anwendung können sich von Magersucht Betroffene dem gefürchteten Szenario "Gewichtszunahme" annähern. Denn klassische Motivationstechniken funktionierten oft nicht gut, weiß Behrens von der Uniklinik Tübingen. "Die meisten Patientinnen und Patienten sind exzellent darin geworden, eine Zunahme zu verhindern. Sie können sich ein Leben als normalgewichtige Person, die nicht mehr explizit über Essen oder ihren Körper nachdenkt, gar nicht vorstellen."

Behandlung erinnert an Computerspiel

Das neue Virtual-Reality-Tool erinnert an ein Computerspiel. Die Patientinnen tragen eine VR-Brille und haben Joysticks in der Hand. Diese eher ungewöhnliche Therapieform kann die klassische Behandlung wie Psychotherapie erweitern. Die Patientinnen sollen mithilfe einer VR-Brille eine reale Vorstellung davon bekommen, wie sie mit einem für ihre Größe angemessenen, gesunden Gewicht aussehen.

Ein Beispiel: Laut Weltgesundheitsorganisation sollte eine Frau bei einer Größe von 1,65 Meter etwa zwischen 52 und 67 Kilogramm wiegen. Das entspricht einem Body Mass Index zwischen 19 und 24,6. Insgesamt vier mal 30 Minuten lang schauen sich die Betroffenen ihren virtuellen Körper an. Bei etwa der Hälfte der Patientinnen lässt die anfängliche Anspannung nach der Hälfte der Zeit nach. Für die klinische Studie haben die Tübinger 24 Patientinnen mit Magersucht untersucht, die aktuell in Behandlung waren.    

Therapie-Option per Zufall entdeckt

Die Entwicklung der VR-Technik ist einem zufälligen Befund zu verdanken: "Wir haben in früheren Studien, wo es eigentlich um Körperwahrnehmung von Patientinnen von Magersucht ging, Zufallsbefunde gehabt, dass es für diese Patientinnen wahnsinnig aufregend war, sich anzuschauen und es ihnen hinterher irgendwie besser ging", sagt Behrens von der Uniklinik Tübingen im SWR.

Behrens hat das VR-Tool gemeinsam mit der Daten-Spezialistin Tsvetelina Alexiadis vom Max-Plack-Institut in Tübingen entwickelt. Dort wurde die VR-Brille programmiert.

VR-Körper sollen möglichst menschlich aussehen

Die Forscherinnen am Max-Planck-Institut haben mithilfe des weltweit ersten 4D-Scanners die Daten Tausender Menschen unterschiedlicher Statur gesammelt. Das Ziel: Die Körper, die später durch die VR-Brille sichtbar sind, sollen möglichst akkurate Proportionen haben. Dafür nahmen 66 hochauflösende Kameras die Person aus verschiedenen Blickwinkeln auf. So lassen sich ihre Körperform und Bewegung rekonstruieren.

Der Avatar soll auch mit seiner Gestik und Mimik möglichst menschlich aussehen. Denn wenn es "gar nicht realistisch aussieht, oder wenn der Körper sich ganz komisch bewegt, ist es ganz schwierig sich zu identifizieren mit der Person", erklärt Tsvetelina Alexiadis vom Max-Plack-Institut.

Eine Frau wird in einem Scanner von Wissenschaftlern gescannt.

Die Entwicklung der VR-Technik ist einem zufälligen Befund zu verdanken.

VR-Brille erweitert klassische Therapie

Die VR-Brille ermöglicht Patientinnen und Patienten einen Blick über die Grenzen der klassischen Körpertherapie hinaus. "Mein Ziel ist dann auch tatsächlich so auszusehen wie auf dem Bild und auch langfristig zu sagen, jetzt bin ich gesund. Jetzt habe ich ein gesundes Gewicht", sagt Patientin Christina.

Gelingt mit Virtual Reality der Blick in eine gesunde Zukunft? Erste Studienergebnisse der Tübinger sind vielversprechend.

Unterstützung bei Magersucht

Wenn Sie selbst magersüchtig sind oder eine Ihnen nahestehende Person betroffen ist, können Sie hier Informationen und Unterstützung finden:

Essstörungen - Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

Netzwerk von Eltern magersüchtiger Kinder

SUSTAIN - Studie zur Nachsorgebehandlung bei Magersucht

Katharina Ditschke, SWR, tagesschau, 11.11.2023 10:03 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 08. November 2023 um 18:20 Uhr.