TikTok Tausende Videos zu Magersucht-Challenge
Das bei Kindern und Jugendlichen beliebte TikTok filtert offenkundig politische Videos - zum Beispiel zu Protesten in Hongkong. Beim Thema Magersucht ist die App weit großzügiger.
Karaoke-Videos, süße Tiere und viele tanzende Teenager. Die Welt der Video-App TikTok erscheint auf den ersten Blick bunt, schrill und vor allem sehr jung. Recherchen von funk zeigen, dass sich Zehntausende Nutzerinnen an einem inoffiziellen Magersucht-Wettbewerb beteiligen. Mehr als 39.000 Videos wurden allein zu einem Lied hochgeladen, zu dem meist sehr junge Mädchen ihre sehr dünnen Körper beziehungsweise ihre Magersucht zur Schau stellen. Stolz zeigen sie Größe-0-Jeans oder wie dünn ihre Arme und Beine sind.
Ein vollkommen abgemagertes Mädchen bekommt für ein solches Video mehr als 68.700 Likes. Ein anderes Mädchen versieht ihr Video zu dem Wettbewerb mit den Hashtags #Ed und #Edrecovery und macht damit deutlich, dass sie an Magersucht erkrankt ist: "Ed" steht für "Eating disorder", also Essensstörung, und "Edrecovery" heißt übersetzt, dass sie sich offenbar gerade von einer Essensstörung erholt. Angefragt zu solchen Magersucht-Wettbewerben verweist TikTok lediglich auf seine Schutzmaßnahmen und eine Body-Positivity-Kampagne.
Screenshot eines TikTok-Videos
Hashtags gesperrt
Auch auf Instagram und Facebook tauchen immer wieder Inhalte auf, die Magersucht, Depressionen oder Selbstverletzung verherrlichen. Die meisten Hashtags sind jedoch gesperrt. Beim Blogger-Netzwerk Tumblr gibt es Suchergebnisse zu solchen Themen zwar zu sehen - werden aber mit einer deutlichen Warnung und einem Link auf eine Hilfeseite ergänzt. Hauptzielgruppe dieser Netzwerke sind zudem vor allem Erwachsene.
Bei TikTok hingegen sind viele Nutzer nicht nur, wie vom Betreiber vorgegeben, mindestens 13 Jahre alt, sondern teilweise noch jünger. Das belegen Recherchen von funk. Kein anderes Netzwerk dieser Größe wendet sich an eine so junge Zielgruppe.
Warnung und Lob
Die Seite Jugendschutz.net warnt außerdem vor den Voreinstellungen von TikTok, denn diese seien unsicher: "Profile und deren Inhalte sind öffentlich einseh- und über die Suchfunktion auffindbar." Die Beratungsseite stellt fest, dass immer wieder Kommentare mit sexuellen Belästigungen vorkommen. Sie beobachteten, dass Erwachsene versuchen, über Kommentare Kontakt zu Minderjährigen herzustellen und die Kommunikation in Dienste wie WhatsApp oder Snapchat zu verlagern. Jugendschutz.net ist das gemeinsame Kompetenzzentrum von Bund und Ländern für den Schutz von Kindern und Jugendlichen im Internet.
Die Jugendschützer loben allerdings gegenüber funk, dass auf TikTok immer mehr Hashtags gesperrt wurden, die zu freizügigen Kindervideos führten. Zudem sei die Meldefunktion mit einem Freifeld erweitert und die Möglichkeit, einen Screenshot an die Moderatoren zu schicken, eingeführt worden.
Grüne fordern besseren Datenschutz
In der Politik ist die App TikTok bislang kaum ein Thema. "Eine spezielle Befassung mit TikTok aus daten- und verbraucherschutzpolitischer Sicht gab es bisher nicht", teilt das Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz auf Anfrage mit. Bedenken gibt es in der Behörde vor allem wegen der Speicherung der Daten: "Der entscheidende Unterschied zu anderen Social Media Apps dürfte bei der Frage liegen, welcher Drittstaat Zugriff auf die Daten des Mediums hat." TikTok teilt mit, dass die Daten auf Servern in den USA und Singapur liegen und der chinesische Staat keinen Zugriff darauf habe.
"Die Bundesregierung könnte und müsste deutlich mehr für den Verbraucherschutz auf Plattformen wie TikTok tun. Gerade im Bereich des Datenschutzes", fordert Tabea Rößner, Sprecherin für Netzpolitik und Verbraucherschutz der Grünen im Bundestag.
Schnelles Wachstum
TikTok ist derzeit die am schnellsten wachsende App der Welt. Das Unternehmen selbst macht auf Anfrage keine Angaben zu der Zahl der Nutzer in Deutschland. Eine Präsentation für Werbekunden, die von der Seite Digiday.com veröffentlicht wurde, gibt für Deutschland 5,5 Millionen Nutzer an. Besitzer von TikTok ist das chinesische Unternehmen ByteDance.
Dass es TikTok möglicherweise mit der Meinungsfreiheit nicht ganz genau nimmt, legen zahlreiche Recherchen nahe. Auch funk stellte beim Thema Hongkong-Proteste fest, dass es Unregelmäßigkeiten gibt und nicht alle Videos unter den entsprechenden Hashtags erscheinen, obwohl das Video damit gekennzeichnet wurde. Wer #Hongkong oder #Honkongprotests eingibt, bekommt kaum Demonstrationen zu sehen, dafür aber viele Videos von der Skyline. Schuld daran ist laut TikTok unter anderem ein "Bug", also ein technischer Fehler bei den Einstellungen der Geolocation.
Video nach 16 Minuten gelöscht
In einem Experiment lud funk verschiedene kritische Videos in einem Test-Account hoch, um zu sehen, wie der Algorithmus die Videos ausspielt. Das erste Video zeigt, wie ein Polizist in Hongkong eine schwangere Passantin mit Pfefferspray attackiert und sie anschließend brutal zu Boden gezogen wird. Bereits nach 16 Minuten wurde das Video ohne Angaben von Gründen gelöscht.
Zwei weitere Videos von den Protesten erreichten zusammen mehr als 800 Views. Ein weiteres Video, in dem Trump für Sanktionen gegen China gedankt wird, sowie ein Video von Protesten in der chinesischen Region Guangdong sahen hingegen nur zwei beziehungsweise sechs Menschen. Woran das liegt, wollte TikTok nicht genau sagen. Das Unternehmen verwies auf eine Stellungnahme, wonach die App positive, lustige Erfahrungen bieten will. "TikTok moderiert keine politischen Stellungnahmen außerhalb lokaler Gesetze noch sind die Entscheidungen unserer Moderation beeinflusst durch eine Regierung, einschließlich der Chinesischen Regierung."
Beim chinesischen Pendant Douyin, das ebenfalls von der Firma ByteDance betrieben wird, sind die Moderationskriterien weit strikter. Bei der wie TikTok funktionierenden App dürfen Nutzer unter anderem nicht "gegen die in der [chinesischen] Verfassung festgelegten Grundprinzipien verstoßen", die nationale Einheit untergraben, das sozialistische System stürzen oder "Kulturen und feudalen Aberglauben" unterstützen.
Die tagesschau ist seit Mitte November auf TikTok und hat dort bislang ein Video zu den Protesten in Hongkong und eines zu den China Cables veröffentlicht. Mehr als 519.000 Nutzer sahen das Erklärvideo zu Hongkong, fast 350.000 den Clip zu den Verbrechen an den Uiguren. funk selbst ist mit fünf Formaten auf TikTok vertreten.