China Cables Chinas gigantischer Unterdrückungsapparat
China hat in der Autonomieregion Xinjiang nach Recherchen von NDR, WDR und SZ einen gigantischen Unterdrückungsapparat etabliert. Unterlagen zeigen erstmals den Blick aus dem Inneren auf die Verfolgung religiöser Minderheiten.
Als geheim eingestufte Dokumente aus dem Inneren der Chinesischen Kommunistischen Partei zeigen erstmals im Detail, wie die massenhafte Internierung von religiösen Minderheiten organisiert und durchgeführt wird.
In der Autonomieregion Xinjiang im Nordwesten Chinas werden nach Einschätzung von Experten mehr als eine Million Menschen in Lagern und weitgehend ohne Gerichtsprozesse festgehalten. Betroffen sind vor allem Angehörige der muslimischen Minderheit der Uiguren.
Uiguren, die wie hier in Kashgar in Xinjiang das Ende des Ramadans feiern, sind der chinesischen Regierung ein Dorn im Auge.
Engmaschig bewachte Indoktrinierungslager
Die Dokumente spielte eine anonyme Quelle Reportern zu. Sie belegen, dass die von der Regierung als freiwillige Weiterbildungseinrichtungen bezeichneten Lager tatsächlich abgeschottet und engmaschig bewacht sind. Die Insassen werden gegen ihren Willen gefangen gehalten und psychisch manipuliert. Wer sich der "Umerziehung widersetzt", dem drohen Strafen. Außerhalb der Lager werden den Dokumenten zufolge Uiguren gezielt überwacht mit dem Ziel, sie in einer Datenbank zu erfassen.
Seit Jahren gibt es Berichte über organisierte Unterdrückung von religiösen - vor allem muslimischen - Minderheiten in der Autonomieregion Xinjiang. Die Region ist die Heimat der Uiguren, eines zumeist islamisch lebenden Turkvolks. Die Chinesische Kommunistische Partei macht der Volksgruppe das Ausüben ihrer Religion und ihrer Kultur zum Teil mit Gewalt unmöglich: Satelliten-Bilder etwa belegen, dass Dutzende jahrhundertealte muslimische Bauwerke und Friedhöfe zerstört worden sind.
Recherchen werden als China Cables veröffentlicht
Die Unterlagen stammen aus den Jahren 2017 und 2018. Sie wurden dem Internationalen Konsortium Investigativer Journalisten (ICIJ) zugespielt. Weltweit prüften Medienpartner, darunter der Guardian, die BBC und der Fernsehsender CBS, die Dokumente und werteten sie aus. In Deutschland waren NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" an den Recherchen beteiligt. Sie werden unter dem Schlagwort China Cables veröffentlicht.
Sie beinhalten unter anderem eine detaillierte Anweisung, unterschrieben von dem damals obersten Sicherheitschef der Autonomieregion Xinjiang. Darin wird dargelegt, wie die in den Lagern internierten Minderheiten selbst bei alltäglichen Dingen wie dem Toilettengang, beim Schlafen und beim Unterricht zu überwachen sind. Auch von Züchtigungsmaßnahmen ist dort die Rede. Außerdem soll ein Punktesystem eingeführt worden sein, mit dem die einzelnen Internierten zu bewerten und selbst kleine Vergehen zu sanktionieren seien.
Konkrete Anweisungen zur Unterdrückung
"Um die Stabilität und langfristige Ruhe der gesamten Gesellschaft in Xingjiang zu fördern, legen wir folgende Stellungnahme zur Verstärkung und Standardisierung der Arbeit von Erziehungs- und Ausbildungszentren vor", heißt es in dem Dokument, gefolgt von einer Auflistung von Anweisungen:
- Türen von Schlafräumen, von Gängen und von Stockwerken sind von zwei Personen doppelt zu verschließen.
- Die Videoüberwachung in den Unterrichts- und Schlafräumen muss vollständig und frei von toten Winkeln sein, um eine Echtzeit-Überwachung durchführen zu können.
- Es ist ein System von Einzelgesprächen einzuführen, ideologische Entwicklungen von Schülern sind unverzüglich in den Griff zu bekommen. Ideologische Widersprüche sind effektiv aufzulösen und negative Gemütszustände zu beseitigen.
- Die Hygienekontrolle der Schüler ist zu stärken. Haareschneiden und Rasieren sowie das Wechseln und Waschen der Kleidung sind rechtzeitig durchzuführen.
- Es ist zu fördern, dass die Schüler Reue zeigen und gestehen, damit sie die Rechtswidrigkeit, Kriminalität und Gefährlichkeit ihrer früheren Taten verstehen.
- Verhindern von Ausbrüchen: Polizeistationen vor den Türen, erhöht positionierte Wachposten und Patroullienstrecken im Gebäude sind zu optimieren.
Selbst wer aus den Lagern entlassen wird, bleibt weiter im Fokus der chinesischen Behörden. "Dafür sind lokale Basisorganisationen verantwortlich, auch Polizei und Justiz. Hilfe und Kontrolle sind rigoros durchzusetzen, damit keine einzige Person übersehen wird", heißt es in dem Dokument.
"Keine Gnade"
Zuletzt hatte die "New York Times" über weitere Dokumente der Chinesischen Kommunistischen Partei berichtet, in denen vor allem die politische Grundlage der Repressionspolitik gegenüber religiösen Minderheiten in China thematisiert wurde. Demnach soll das harte Vorgehen gegen Muslime von Präsident Xi Jinping persönlich angeordnet worden sein. Dabei solle "keine Gnade" gezeigt werden, zitiert die Zeitung eine Rede des Staatschefs aus dem Jahr 2014.
Die China Cables erlauben einen tiefen Einblick in die Mechanik der Unterdrückung, die die Chinesische Kommunistische Partei in der Autonomieregion Xinjiang etabliert hat. Adrian Zenz forscht seit Jahren zu Minderheiten in China. Er gilt als einer der weltweit führenden Experten für die Situation in Xinjiang. Zenz spricht von einer "systematischen Internierung einer ganzen ethno-religiösen Minderheit", die vom Ausmaß her "vermutlich die größte seit dem Holocaust" sei.
Auch außerhalb der Lager unter Kontrolle
Zenz konnte die Dokumente überprüfen. Für ihn belegen sie "im Detail, dass die Regierung seit 2017 eine Massenkampagne der Umerziehung in dieser Region durchführt, unter dem Namen der Berufsbildung". Gleichzeitig, so der Experte, "geben die Dokumente aber auch eine schockierende Gewissheit, dass das Ganze eine systematische und vor allem eine geheime Kampagne ist".
Neben den Vermerken des Sicherheitschefs umfassen die nun veröffentlichten Dokumente auch vier zusammenfassende Ausschnitte der sogenannten "Integrationsplattform für den gemeinsamen Einsatz", verfasst von der "Kommandostelle des Parteikomitees des Autonomen Gebietes für energisches Niederschlagen und Stürmen an der Gefechtsfront" - eine Art interne Neuigkeiten-Plattform der Überwacher. Das Dokument zeigt, wie die Chinesische Kommunistische Partei gegen religiöse Minderheiten vorgeht, die nicht in Lagern interniert sind.
Überwachung bis in Familien hinein
Die "Integrationsplattform", eine Datenbank zur Verfolgung und Beobachtung einzelner Angehöriger von religiösen Minderheiten im In- und Ausland, ist dabei offenbar eines der wichtigsten Werkzeuge. Um die Datenbank zu füllen, werden demnach nicht nur Ausweise erfasst und Reisetätigkeiten überwacht, sondern auch Mitarbeiter in uigurische Dörfer, zum Teil sogar in die Familien geschickt, um genau herauszufinden, wie die Menschen über die Kommunistische Partei denken.
Permanente Überwachung und Checkpoints auch außerhalb der Lager: Hier der Eingang zu einem Basar in Hotan in der nordwestchinesischen Region Xinjiang.
Dazu sollen "Spezialgruppen (…) in die Haushalte eindringen, jede Person aufsuchen, sie befragen, Erkundigungen über sie einziehen und sie gründlich überprüfen". Dabei gewonnene Informationen seien dann wiederum in die "Integrationsplattform" einzuspeisen. Einzelne Einwohner sollen dabei auch in "Gefahrenkategorien" eingeteilt werden.
Zehn Jahre Haft für "ethnischen Hass"
Die Anweisungen des Sicherheitschefs und die Zusammenfassungen der "Integrationsplattform" sind als "geheim" eingestuft, die mittlere von drei Geheimhaltungsstufen innerhalb des Chinesischen Verwaltungsapparats. Ein weiteres Dokument ist nicht eingestuft.
Es handelt sich dabei um ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 2018, aus dem hervorgeht, dass ein männlicher Uigure zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden ist. Die Staatsanwaltschaft hatte ihm "ethnischen Hass und ethnische Diskriminierung" vorgeworfen, weil er Arbeitskollegen dazu aufgefordert haben soll, aus religiösen Gründen keine Pornographie zu schauen und regelmäßig zu beten.
Die Medienpartner des ICIJ schickten eine gemeinsame Anfrage an die chinesische Regierung und konfrontierten sie mit den Vorwürfen, die sich aus den Dokumenten ergeben. Diese Anfrage blieb unbeantwortet.
Reporter von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" richteten zusätzlich eine Anfrage an die chinesische Botschaft in Berlin. Fragen zu den Dokumenten beantwortete die Botschaft nicht, sie verwies lediglich auf offizielle Stellungnahmen zu den "Bemühungen von Xinjiang zur Terrorbekämpfung und Entradikalisierung sowie zur beruflichen Aus- und Weiterbildung".